Tochter der Insel - Historischer Roman
lud alle Gäste wieder aus. Mir gelang es zum Glück, das Pferd samt dem Fohlen zu retten. Vielleicht hat sich Kristin deshalb in mich verliebt. Wer weiß? Für mich jedenfalls war es Liebe auf den ersten Blick.
Wir waren verrückt aufeinander und trafen uns heimlich. Bald kannte ich die Ställe in der Nähe ihres Elternhauses wie meine Westentasche.
Wir kamen uns nahe, doch unsere Welten lagen meilenweit auseinander. Es gab keine Brücke, keinen Steg. Natürlich sah ich das damals nicht ein. Wenn man einen Menschen bis zum Wahnsinn liebt, dann verliert man den Blick für die Realität. In meinen Träumen stellte ich mir das Leben mit Kristin in rosaroten Farben vor. Sie, die ungekrönte Herrscherin im Hause eines angesehenen Arztes. Dass ich nur Tierarzt ohne eigene Praxis war, spielte keine Rolle für mich.«
Leas Hände umschlossen den Becher mit heißem Tee. Sie pustete sachte hinein, um ihn abzukühlen. Dann nahm sie vorsichtig einen Schluck.
»Irgendwann war es vorbei mit der Heimlichkeit, oder?«
»Ja. Ich bin ein Mann, der ohne Umschweife geradewegs auf sein Ziel zugeht, und beschloss, bei Kristins Vater um ihre Hand anzuhalten. Ihre Eltern haben mir von Anfang an misstraut. Ihr Vater zog Erkundigungen über mich ein. Er war Anwalt. Ich glaubte natürlich, er würde dem Recht dienen, doch er diente nur der Obrigkeit und sich selbst. Für ihn war ich nichts weiter als ein Verräter, der sich mit Radikalen und Aufwieglern umgab.
Er tat alles, um seine Tochter von mir fernzuhalten, nannte mich einen Habenichts und Querulanten. Wobei Ersteres sogar stimmte. Meine Eltern sind gleich nach dem Ende meiner Ausbildung gestorben und haben uns kaum etwas hinterlassen. Vater ist zeit seines Lebens Schafzüchter gewesen und musste jedes Geldstück dreimal umdrehen, um mir und meinen Geschwistern eine gute Ausbildung zu ermöglichen. Ich habe das zu schätzen gewusst und mein Möglichstes gegeben.
Als ich Kristin kennenlernte, arbeitete ich in der Praxis eines befreundeten Pferdearztes, den ich von der Tierarzneischule kannte. Mein Traum war es, als selbstständiger Veterinär irgendwo auf dem Land zu leben. Es hätte mir von Anfang an klar sein müssen, dass diese Vorstellung sich niemals mit der, die Kristin von ihrer Zukunft hatte, decken würde. Blind war ich auch dafür, dass sie sich von ihrem Vater gegen mich beeinflussen ließ.
Zu der Zeit war ich befreundet mit Johann Gittermann, dem Sprecher der liberalen Bewegung in Esens. Wir kannten uns aus Studententagen. Damals gab es die ersten Versammlungen, auf denen Forderungen zur Verbesserung der politischen und sozialen Lage diskutiert wurden. Als am 18. Mai 1848 in der Frankfurter Paulskirche die Nationalversammlung zusammentrat, um die Grundrechte und eine neue Verfassung zu beschließen, glaubten wir uns den Zielen, von denen wir so oft geträumt hatten, nahe. Wir hofften auf den schwarz-rot-goldenen Geist und riefen in ganz Ostfriesland dazu auf, der Reichsverfassung in feierlichem Rahmen öffentlich Treue zu geloben. Ich schlug vor, Johann Gittermann als Redner einzuladen.
Unsere Versammlung wurde zwar verboten, doch wir ließen uns nicht von unserem Vorhaben abbringen. Nach außen taten wir einsichtig, doch heimlich bereiteten wir alles Nötige vor. Und dann kam unser großer Tag! Johann war einfach wunderbar. Seine Worte trafen die Herzen der Zuhörer. Er gemahnte die Menge, sich auch weiterhin um das schwarz-rot-goldene Banner zu scharen. Ich habe noch seine Schlussworte im Ohr: ›Durch Einheit zur Freiheit. Sie ist das höchste Gut.‹«
Joris seufzte schmerzlich auf. »Keine Stunde später wurde die Menge zerschlagen und Johann und ich als Rädelsführer wegen Hochverrats und Majestätsbeleidigung in Untersuchungshaft genommen. Es war Kristin, die uns verraten hatte. Irgendwann haben die Einflüsterungen ihres Vaters gewirkt und sie hat sich von mir abgewandt. Ich habe es gemerkt, wollte es aber nicht wahrhaben.
Mein Vertrauen zu ihr war grenzenlos und ich ließ sie an meiner Begeisterung für den frischen Wind, der bald wehen würde, teilhaben. Ein schwerwiegender Fehler. Kristin wusste Ort und Zeit der Versammlung und hat ihrem Vater davon erzählt. Für ihn ein gefundenes Fressen und eine gute Lösung, um mich und Johann Gittermann, der ihm schon lange ein Dorn im Auge war, loszuwerden. Kristin schrieb in ihrem Abschiedsbrief, dass ich mit meinem verbrecherischen Tun unsere gemeinsame Zukunft zerstört hätte.
Ich verbrachte Tage und Wochen
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