Tochter der Insel - Historischer Roman
einen Vorteil zu verschaffen. Und der Gedanke, dass Joris so von ihr denken könnte, ließ Lea vor Verzweiflung aufstöhnen. Sie musste fortgehen, weglaufen. Sogleich! Aber wohin sollte sie gehen?
Lea versuchte sich zusammenzureißen, doch es nützte nichts. Die Lügen, in die sie sich verstrickt hatte, lasteten auf ihrem Gewissen wie ein Sack voller Steine. Sie musste irgendjemandem die Wahrheit sagen, sonst würde sie ersticken. Einem Menschen, der sie verstand und dem sie vertrauen konnte. Aber wem?
Wie ein erlösendes Zeichen fiel ihr plötzlich jemand ein. Warum war sie nicht eher darauf gekommen? Bell!
Lea stand auf und trat, mit der Lampe in der Hand, zu dem Schränkchen an der Fensterseite. Sie öffnete eine Tür und fand bald das Gesuchte. Briefpapier und Umschläge. Sie griff nach der Feder und dem Tintenfass. Dann zog sie sich einen Stuhl zum Tisch und ergriff einen weißen Bogen. Liebste Bell …
Die Feder flog über das Papier und schließlich faltete Lea mit einem erleichterten Seufzer das Blatt zusammen und schob es in einen Umschlag. Den Brief wie einen Rettungsanker umklammernd, stand Lea auf und wankte zum Bett. Morgen würde sie Hardy die Zeilen mitgeben.
Lea schlüpfte unter die Decke und hüllte sich ein. In der Ferne vernahm sie das Heulen eines Wolfes. In seinem Ruf klang Einsamkeit. Eine verzweifelte Einsamkeit, die Lea die Tränen in die Augen trieb.
8
L ea hielt in der einen Hand einen Korb mit Möhren, während die andere die Sonnenhaube mit dem steifen Rand umfasste. Der Wind hatte stark zugenommen und ihr die Bedeckung fast vom Kopf geweht. Einige verirrte Sonnenstrahlen lugten zwischen den dunklen Wolken hervor, als versuchten sie darüber hinwegzutäuschen, dass ein Unwetter aufkam.
Die langen Ärmel ihres blauen Kleides behinderten sie bei der Arbeit, daher trug Lea sie bis zu den Ellenbogen aufgekrempelt. Die zarte Haut ihrer Arme hatte Kratzer und war rot von der Sonne. Lea blieb stehen und stellte den Korb ab. Sie blickte über die Weiden. Der Wind spielte mit einigen Haarsträhnen, die sich aus der Hochsteckfrisur gelöst hatten.
Ob sie Joris nach den Nächten fragen sollte, in denen er ohne ein Wort verschwand? Wohin ging er? Gab es eine Frau, die er besuchte? Doch dazu schien die Zeit nicht lang genug. Es dauerte immer nur eine Stunde, dann hörte sie die Tür erneut und alles war wieder still. Lea seufzte. Sie wagte es nicht, ihn zu fragen. Wenn Joris in aller Heimlichkeit verschwand, ohne ihr etwas zu sagen, dann hatte das bestimmt einen guten Grund.
Lea betrat das Haus und legte die Haube gedankenverloren auf den Schaukelstuhl. Sie ging in ihre Schlafkammer, um sich die Hände zu waschen, und wäre fast mit Joris zusammengestoßen.
Er schien genauso erschrocken wie sie.
»Entschuldige.« Seine Stimme klang rau, als ob er bei etwas Verbotenem ertappt worden wäre.
Mit Erleichterung dachte Lea daran, dass sie den Brief an Bell gut verborgen hatte. Ihre Augen glitten durch den Raum, über die Haarbürste, die silbern glänzende Seifendose und das kleine Buch auf dem Tisch, auf dessen Titel eine blaue Blume abgebildet war. Ihr Parfüm, Nelkenduft, hing in der Luft. Auf dem aufgeschlagenen Bett lag ihr Nachthemd aus hellem Stoff. Der tiefe Abdruck ließ erkennen, dass Joris dort gesessen hatte.
Was tat dieser Mann in ihrem Schlafzimmer? Hatte er sie vom Fenster aus beobachtet?
Sie brachte es nicht über sich, ihn zur Rede zu stellen.
»Ich komme gerade aus dem Stall. Das Zicklein ist jetzt so weit, dass es wieder zu den anderen auf die Weide kann«, sagte Lea stattdessen.
»Du hast dich wie eine Mutter um ihn gekümmert.«
»Ich werde den Burschen vermissen.«
»Er deine liebevolle Behandlung sicherlich auch.« Joris sah sie an und lächelte. Dann griff er nach ihrem Arm. »Lea, du musst besser auf deine Haut achten. Du darfst deine Ärmel nicht mehr aufkrempeln. Die Sonne ist zu stark. Die Blasen müssen höllisch wehtun.«
Joris nahm eine Flasche mit Öl aus seiner Satteltasche, zog den Korken heraus und goss die Flüssigkeit in seine Hand. Sie zuckte zusammen, als er damit über ihre verbrannte Haut strich.
»Du solltest dir auch das Gesicht einreiben.«
»Vielen Dank«, sagte Lea schnell und streckte ihre Hand nach der Flasche aus.
Sie sah über seine Schulter hinweg nach draußen. Blauschwarze Wolken trieben auf das Haus zu.
Joris stellte sich neben sie. »Sieht aus, als bekämen wir es mit einem Sturm zu tun. Es fängt schon an zu regnen.«
Der Wind
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