Tochter der Insel - Historischer Roman
Er hielt sich aus der Politik heraus. Vielleicht habe ich mich gerade deshalb so sehr damit beschäftigt. Vater hat es nicht leicht mit mir gehabt. Ich war zwar ein guter Schüler, doch mit einem sehr eigenen Kopf. Oft haben wir uns in den Haaren gelegen.« Er lächelte bei der Erinnerung daran.
»Ich kannte auch jemanden mit einem sehr eigenen Kopf! Sie hat sich ständig mit meiner Großmutter gestritten. Weißt du, Joris, du erinnerst mich an … «
Lea unterbrach sich gerade noch rechtzeitig. Du erinnerst mich an Rebekka, hatte sie sagen wollen. Während Joris erzählte, war sie ganz in ihre eigene Identität zurückgefallen und hatte den unbändigen Drang verspürt, das Vertrauen, das Joris ihr entgegenbrachte, zu erwidern, ihm eigene Erinnerungen, ihre ganz persönlichen, zu erzählen. Doch das war nicht möglich, ohne sich zu verraten. Lea zwang sich in ihre Rolle zurück und hatte mit einem Mal das Gefühl, auf hauchdünnem Eis zu schreiten. Sie starrte in die Kerzenflammen und versuchte, ihre Sinne zu sammeln.
»An wen erinnere ich dich?«, fragte Joris neugierig.
»Ich kannte jemanden, der genauso rebellisch war wie du«, sagte Lea vorsichtig.
Joris runzelte die Stirn. »War?«
»Ja. Meine Schwester. Sie ist tot.«
»Möchtest du mir davon erzählen?«
Lea zögerte kurz. Jetzt, schrie es in ihr. Die Versuchung, sich alles von der Seele zu reden, war riesengroß. Lea spürte, wie es hinter ihrer Schläfe schmerzhaft pochte. Sollte sie es tun? Wenn sie einmal damit anfinge, dann gäbe es kein Halten mehr. Alles würde herausbrechen wie eine Sturmflut … Die ganze Verzweiflung, die Trauer, die Angst. All das, was sie sorgsam in den letzten Winkel ihres Inneren gestopft und fest verschlossen hatte.
Joris’ warmer Tonfall und seine Nähe hätten sie fast dazu gebracht, die Tore zu ihrer innersten Kammer zu öffnen. Fast! Ihre Beziehung zu Joris war plötzlich etwas so Kostbares, etwas so Zerbrechliches geworden, dass Lea es nicht durch ihr Geständnis gefährden wollte. Sie sah Joris an, der immer noch auf eine Antwort wartete.
»Ich kann nicht!«
Joris schwieg. Lea spürte, wie er sich von ihr zurückzog. Er blickte zur Uhr.
»Es ist spät. Wirst du schlafen können?«
»Ja.« Sie erhob sich. »Vielen Dank, Joris!«
»Keine Ursache.«
Ohne ein weiteres Wort stand er auf und verschwand.
Draußen klagte ein Käuzchen und der Wind ließ die Balken des Hauses leise ächzen. Wie eine lähmende Last legten sich Angst und Einsamkeit auf Lea. Mit steifen Schritten kehrte sie in ihr Zimmer zurück, stellte die Lampe auf den Tisch und ließ sich auf die Bettkante sinken.
Rebekkas Haus, in dem sie sich von Anfang an wohlgefühlt hatte, wirkte plötzlich kühl und abweisend. Es war nicht ihr Zuhause, es war nicht ihr Leben. Rebekka war eine Künstlerin gewesen, eine Rebellin. Sie dagegen nur ein blasses Abbild dessen. Lea blickte auf die Lampe und wünschte sich, deren warmes Licht möge die dunklen Schatten vertreiben.
Wenn sie doch nur ihr Geheimnis mit einem Menschen teilen könnte! Wenn es nur irgendjemanden gäbe, dem sie ihre wahre Identität preisgeben dürfte. Es war so schwer, immer eine Rolle spielen zu müssen und doch nicht aus seiner Haut zu können. Und es brachte unlösbare Probleme mit sich.
Sie dachte an Joris. Er weckte in ihr eine Unruhe, die an ein Gewitter erinnerte, das darauf wartete, sich zu entladen. Ihre Gefühle für ihn waren wie ein lodernd züngelndes Feuer. Ins Feuer aber konnte man nicht greifen, ohne sich daran zu verbrennen.
Plötzlich fühlte Lea sich schrecklich allein. Die Prärie, die Menschen hier, alles schien ihr so fremd. Sie sehnte sich plötzlich mit jeder Faser ihres Seins zurück nach der Geborgenheit, die Wangerooge einmal für sie bedeutet hatte. Wie schön wäre es, alle Probleme hinter sich lassen zu können und einen Platz dort zu haben, Frieden zu finden.
Du gehörst nicht mehr dorthin, flüsterte es in ihr.
Doch hierher, nach Amerika, gehörte sie auch nicht. Was, um alles in der Welt, wollte sie überhaupt noch hier?
Die Verrücktheit dessen, was sie tat, traf Lea wie ein Keulenschlag. Panik überkam sie. Ohne etwas wahrzunehmen, starrte sie auf das Lampenlicht und wusste nicht mehr, wie sie die Stunden der Lügen weiter überstehen sollte. Sie war nicht Rebekka! Joris würde es bald erraten und wissen, dass sie eine gemeine Betrügerin, eine Verbrecherin der schlimmsten Sorte war. Jemand, der den Tod eines Menschen verschwieg, um sich selbst
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