Tochter der Schatten - Vara, M: Tochter der Schatten
Gabriella endlich die Palastrückseite erreichte. Auf den ersten Blick entdeckte sie jedoch keine Gärten, sondern nur Felsen, Sand und Ödnis. Erst als sie genauer hinsah, schälten sich kleinere und größere Gebäude aus der grauen Landschaft heraus. Sie beobachtete, lauschte. Da war nur das leise Summen des Windes, der stetig den Sand gegen die Palastmauer und ihr zwischen die Zähne und in die Nasenlöcher rieb, sonst blieb alles still. Graues Land hatte Darran es einmal genannt, und es stimmte. Sogar der Himmel war eintönig grau, als hätte ein Maler in depressiver Stimmung seinen gesamten schwarzen und weißen Tubenvorrat vermischt. Sie huschte von Felsblock zu Felsblock, wie die Indianer in ihren Kinderbüchern stets Deckung suchend. Und dann, nachdem sie einen gewaltigen Felsblock umrundet hatte, sah sie die Siedlung knapp vor sich.
Betroffen blieb sie stehen. Nur Totenstille überall. Nichts rührte sich, nichts regte sich. Langsam schritt sie, den Schutz des letzten Felsens verlassend, auf das erste kleinere Gebäude zu. Und je näher sie kam, desto mehr bewahrheitete sich ihre Befürchtung: Der Ort, an den der Wächter sie geschickt hatte, war ein Friedhof.
***
Ehe mit der anbrechenden Dunkelheit ein eisiger Sturm aufzog, zog sich Darran wie so oft in den letzten Tagen in jenen Teil der ehemaligen Palastanlage zurück, der früher die blühenden Gärten seiner Mutter beherbergt hatte. Er selbst hatte sie nicht mehr kennengelernt, denn als er geboren worden war, hatte der Sand schon die Herrschaft über dieses Land angetreten und mit jedem Jahr mehr davon in Besitz genommen.
Amisaya war seit jeher von felsigen Bergen dominiert gewesen, die das Land durchzogen wie versteinerte Erinnerungen an den Beginn allen Lebens. Dazwischen aber hatte alles gegrünt. Üppige Wälder hatten sich mit lieblichen Gärten abgewechselt. Zu seiner Zeit war der Großteil von Amisaya allerdings schon Steinwüste, und seine Mutter hatte viel Mühe aufgewandt, zumindest einen kleinen Teil des ehemaligen Parks am Leben zu erhalten. Er hatte ihr oft dort Gesellschaft geleistet, und sie hatte ihm von früher erzählt.
Sein Weg führte ihn durch den versandeten Garten zum Kraftort seiner Familie, einem Pavillon, der vom Ersten seines Geschlechts errichtet worden war. Hier hatten seine Vorfahren ihre Spuren hinterlassen, sowohl als in Stein gemeißelte Bildnisse als auch mit ihrer Magie, die sie im Tode an diesem Ort weitergegeben hatten, damit jene, die ihnen nachfolgten, daraus Kraft schöpfen konnten.
Viele waren hier freiwillig zu den Nebeln gegangen, am Ende eines langen Lebens. Auch seine Mutter war schon vor dem Tod seines Vaters hierhergekommen, um zu sterben. Darran hatte damals gedacht, dass der Tod seiner Mutter dazu beigetragen hatte, seinen Vater gegen Strabo in den Krieg ziehen zu lassen. Sie war an dem Land zugrunde gegangen. An der Trockenheit, an der Trauer über den Verlust des Paradieses, das es früher einmal gewesen war.
Er ließ sich auf der obersten Steinstufe des Pavillons nieder, ohne den magischen Kreis in der Mitte, in dem sich das Erbe seiner Ahnen sammelte, zu betreten. Er war noch nicht bereit dazu, zuerst musste er sich selbst finden, ehe er versuchte, mit seinen Ahnen Kontakt aufzunehmen. Vorausgesetzt, sie hatten sich in der Zwischenzeit nicht völlig zurückgezogen.
Strabo hatte recht gehabt, er war ein guter Krieger gewesen, tödlich und entschlossen, bis man ihm seine Persönlichkeit nahm und er erst durch Gabriella aus einer Marionette wieder zu einem Mann geworden war. Allerdings ein anderer als zuvor. Das Leben in Gabriellas Welt, sie selbst, seine Liebe zu ihr, hatte auch seinen Charakter neu geprägt. Er musste sich erst klar werden, wer der Mann war, der zurückgekehrt war.
Darran wandte den Kopf dorthin, wo sich in der Ferne jene Wand befand, die ihn von Gabriella trennte. Nur eine magische Barriere zwischen zwei Welten, nicht mehr, und doch undurchdringlicher als feste Mauern.
»Denke nicht einmal daran, sie zu durchbrechen.«
Er sah auf, als Markus neben ihm auftauchte. Er schien seine Gedanken lesen zu können. Vermutlich hatte er ihn sogar die ganze Zeit über beobachtet und geargwöhnt, sein ehemaliger Schützling könnte auf die Idee kommen, in die andere Welt zurückzukehren.
Er zuckte mit den Schultern. »Du hast es getan.«
»Weil sie mich sonst gepackt hätten, ich musste.« Markus wandte sich mit zusammengepressten Lippen ab.
Darran nickte leicht. »Sie haben dich
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