Tochter der Schatten - Vara, M: Tochter der Schatten
wenn sie all diese Sprachen gesprochen hätte, wäre diese hier ihr völlig unbekannt.
Vielleicht hausten hier ja doch irgendwelche Leute? Hoffnungsvoll ließ sie ihren Blick über die verlassen wirkende Totensiedlung schweifen. Ihre Mutter hatte einmal in Paris Fuß zu fassen versucht, war aber nach einem Jahr weitergezogen. Gabriella erinnerte sich jedoch an einen Friedhof, in dem Obdachlose in den kleinen Denkmälern, die wie Häuschen die Reihen bestanden, gewohnt hatten. Vielleicht war es hier ähnlich?
Diese Grabmäler – so es sich um welche handelte – waren denen in ihrer Welt gar nicht so unähnlich. Daheim hatte früher die Sitte geherrscht, Fotos der Verstorbenen am Grabstein anzubringen, und hier waren es eben Reliefs, fein ausgearbeitet, lebendig anmutend, auch wenn sie aus grauem Stein waren. Sie blieb vor einem der größeren Grabmäler stehen und betrachtete die Gesichter auf den Reliefs: Jedes wirkte individuell gestaltet, und alle sahen aus, als wären sie eben erst frisch gemeißelt worden. Familiengräber , kam ihr in den Sinn. Manche wirkten wie ganze Stammtafeln. Eltern, darunter offenbar ihre Kinder und Kindeskinder, nach der Familienähnlichkeit zu urteilen. Familiengruften. Gabriella weigerte sich eine Zeit lang, die Schlussfolgerung zu ziehen, aber der hämische Blick des Wächters kam ihr wieder in den Sinn, und sie spürte plötzlich eine Schwere, die sie beinahe zu Boden zog.
Sie wusste nicht, wie lange sie vor dem Grabmal stand, voller Angst, weiterzugehen, oder die anderen Gräber auch nur anzusehen. In ihrem Kopf drehte sich alles; das boshafte Grinsen des Wächters verschmolz mit der Warnung des Jägers und ihrer eigenen Angst um Darran. Ihre eigene, dumme Bitte an Darran, Markus und Rita Zeit zu lassen, die Erinnerung an die letzten Minuten mit ihm, ehe er einfach vor ihren Augen verschwunden war. Vielleicht zu Tode verurteilt wie jene, die er im Auftrag ihres Vaters, ihres eigenen Vaters!, zurückgebracht hatte.
Endlich atmete sie tief durch, hustete, weil sie dabei Staub eingesogen hatte, und wurde sich der einbrechenden Dämmerung bewusst. Die Grabmäler warfen lange Schatten, und die Reliefs hoben sich noch deutlicher vom Hintergrund der Steine hervor, als hätten sie neue Plastizität gewonnen. Gabriella schien es sogar, als erwachten manche zum Leben, aber es war nur der Sand, der um sie herumwirbelte.
Ein Blick nach der Sonne zeigte, dass sie bald unterging. Bis dahin sollte sie diesen Friedhof abgesucht haben und sich einen Platz zum Schlafen suchen. War es die schreckliche Vorahnung, die sie zittern ließ, oder wurde es wirklich kühler? Es hatte keinen Sinn mehr, das Unabänderliche hinauszuschieben. Irgendwo, in einer dieser Gruften, lag Darran begraben.
Sie hastete weiter. Der Wind nahm stetig zu, trieb den Sand hinter ihre Brillengläser und ließ ihre Augen tränen. Gut, dass sie auf ihre Kontaktlinsen verzichtet hatte, die wären jetzt schon staubtrocken und hätten ihre Augen aufgescheuert wie Sandpapier. Sie zog ihre Ja-cke enger um sich, während sie zwischen den Denkmälern hindurchlief und ihre Blicke scheu über die Reliefs gleiten ließ. Keines sah Darran auch nur annähernd ähnlich. Einmal erschrak sie, verharrte mit klopfendem Herzen, aber dann sah sie, dass sie sich nur von einer gewissen Ähnlichkeit hatte täuschen lassen.
Dort hinten war ein besonders großes Grabmal, bei dem sie sicherlich Unterschlupf finden konnte. Der eisig kalt gewordene Wind peitschte jetzt größere Sandkörner vor sich her, wurde zum Sturm, der sie mit kleinen Gesteinsbrocken, Hagel ähnlich, bombardierte. Er trieb sie an die Gruft heran, sie stolperte und fiel zwei Stufen hinab, wo sie sich zusammenkauerte, den Rucksack mit beiden Armen umschlang und die Kapuze tief ins Gesicht zog.
Dieser Blonde hatte so recht gehabt mit seiner Warnung! Sie hatte Darran nichts als Unglück gebracht und sogar seinen Tod verursacht. Mit Darran war der einzige Grund gestorben, für den sie hierhergekommen war und für den sie hier hatte leben wollen. Was sollte sie nun noch hier? Auf unbestimmte Zeit dahinvegetieren, bevor sie verhungerte und verdurstete? Da konnte sie auch gleich hierbleiben. Wahrscheinlich war es nur gerecht, wenn sie hier, in Darrans Nähe starb.
Die Müdigkeit, die Angst und Aufregung hatten sie erschöpft, und sie fiel in einen unruhigen Schlummer, bis Stimmen sie aufschrecken ließen. Die Nacht war inzwischen hereingebrochen, und der Wind hatte sich etwas gelegt.
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