Tochter der Träume / Roman
und mir Lieder vorsang, die ich als »La-la-la«-Liedchen bezeichne. Die Melodie war eigentlich immer anders, aber der Text blieb ein »La-la-la«, das sie immer und immer wieder sang. Wenn ich heute schlecht einschlafen kann, dann summe ich diese Liedchen manchmal in Gedanken vor mich hin.
Meine Mutter sang mir jeden Abend vor, brachte mich danach ins Bett, deckte mich zu und wünschte mir wunderbare Träume. Auch wenn mir bis dahin schon fast die Augen zugefallen waren, erinnere ich mich noch gut daran, wie sie sagte, sie wolle am Morgen alles über meine Traumabenteuer erfahren. Sie ist oft in meinen Träumen gewesen, sie und Morpheus.
Wo war mein sogenannter Vater, wenn ich in seinem Reich vergewaltigt wurde? So viel zum Thema, dass er der König der Träume war. Die Mauern, die ich in meinem Kopf errichtet hatte, hätten ihn nicht aufhalten können, nicht wahr? Wusste er nicht über alles Bescheid, was in seinem Königreich vor sich ging?
Zum Teufel mit Morpheus. Ich hätte dieses gruselige Ding aus meinem Traum gründlich verprügeln sollen. Hätte ich mich selbst besser gekannt und mir mehr zugetraut, dann wäre genau das meine Reaktion gewesen.
Aber so war es nicht geschehen – und das ärgerte mich mehr als der Traum selbst.
»Ich komme, Dawnie. Ich komme. Und du kannst nichts dagegen tun.«
Ich drehte mich auf die Seite, als es wieder in meinem Bauch rumorte. Ich musste aufhören, daran zu denken, musste es gut sein lassen. Es war vorbei. Ich war in Sicherheit. Es war nur ein Traum, und Träume konnten mir nichts anhaben.
Und obgleich ich das wusste, dauerte es sechs lange »La-la-la«-Liedchen, bis ich wieder einschlafen konnte.
Als ich nach New York zog, war ich sicher gewesen, dass mich diese Stadt in ihrer Größe und mit all ihren Menschen ziemlich ungerührt lassen würde. Schließlich kam ich aus
Toronto
. Das Großstadtleben war nicht neu für mich.
Alles Quatsch!
New York ist wie keine andere Stadt auf dieser Welt, und das macht einen Teil ihres Charmes aus. Nicht, dass ich schon viel gereist wäre, aber ich glaube, das kann ich getrost behaupten. Es gibt Zeiten, da ist die Stadt schmutzig und stinkt, und die Menschen scheinen so sehr in Eile zu sein, dass sie sich für nichts und niemanden interessieren außer für sich selbst. Und dann wiederum gibt es Zeiten, da fällt die Sonne durch die Häuserschluchten der Fifth Avenue und lässt die Welt strahlend schön erscheinen. Es gibt Tage, wenn die Straßen morgens frisch mit Wasser abgespritzt wurden, da riecht man nichts außer feuchtem Beton und der Frische einer erwachenden Stadt. Am Horizont hängt ein dunstiger Schleier, doch es weht eine süße Brise – und kein Taxi verpestet die Luft, und kein Uringestank dringt aus den U-Bahn-Schächten.
Ich saß auf dem Weg zur Arbeit in der U-Bahn, als eine Mariachi-Band einstieg, ihre typisch mexikanische Musik in den Gängen spielte und einen Sombrero durch die Reihen gehen ließ. Nur die Touristen sahen interessiert zu, während ich für meinen Teil inzwischen perfekt darin war, eine unbeteiligte Miene aufzusetzen, obwohl die Musik mich jedes Mal mitriss. Nur die Breakdancer, die manchmal mitfuhren, waren mir nicht geheuer. Ich hatte immer Angst, einen Tritt an den Kopf abzubekommen. Eines Tages würde noch jemand ein Auge verlieren, da war ich mir sicher.
New York, und insbesondere Manhattan, war ziemlich imagebewusst. Trotzdem ging ich jede Wette ein, dass mich schon der nächste beliebige Hot-Dog-Verkäufer aus dem Vorderen Orient eine »hübsche Lady« oder ähnlich nannte, weil er meine üppigen Formen für sein Idealbild hielt. Während die Leute in Toronto durchaus ihre eigene Form des brüsken Umgangs pflegten, wie ihn das Großstadtleben eben so mit sich brachte, war mir nirgendwo außer hier in Manhattan häufiger gesagt worden, dass ich »mehr Haltung« zeigen müsse. Ich hatte mich für eine Großstadtpflanze gehalten und mich geirrt, denn zu einer solchen wurde ich erst in New York. Doch jetzt gehörte ich voll und ganz dazu, als ich in meinem schwarzen Kostüm (ein Schnäppchen bei Daffy’s), meiner riesigen Diva-Sonnenbrille (von einem Straßenhändler) und meiner gefälschten Kate-Spade-Handtasche mit zielsicherem Schritt über den Bürgersteig ging. Auch meine Schuhe waren eine günstig erstandene Designermarke. Das schicke Outfit brauchte ich heute, um zu überspielen, wie hundsmiserabel ich mich fühlte, da ich die Nacht zuvor nicht besonders gut geschlafen
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