Tochter der Träume / Roman
einen Heidenrespekt vor diesem Wasser und seiner launenhaften Natur. Schon oft hatte ich Geschichten gehört von Leuten, die im Watt von der Flut überrascht worden waren, von Booten, die erfasst wurden, oder von Kindern, die ertranken. Ich war schon oft in den kühlen Wellen geschwommen, hatte gelernt, dass es während der Nachmittagsflut besonders schön war. Dann nämlich war das Wasser herrlich aufgewärmt, da es zuvor über die flachen Priele gespült war. Ich könnte warten, bis die Flut wieder zurückwich, um ein paar Muscheln zu sammeln und sie am Strand über einem Holzfeuer zu dünsten.
Im Augenblick aber war ich hier oben auf meinem rauhen Fleckchen Erde vollauf zufrieden. In kurzen Hosen, rückenfreiem Top und barfüßig genoss ich die Sonne, die meine Haut wärmte und das Wasser glitzern ließ wie ein Becken voller Kristalle. Das Leben war schön und friedlich hier. Und ich war klein und bedeutungslos vor diesem kilometerlangen, leeren Strand. Doch mehr als eine Handvoll Menschen hatte ich hier ohnehin noch nie gesehen. Als Kind war mir dieser Ort wie meine ganz persönliche Oase erschienen, und dieses Gefühl kehrte nun wieder.
Plötzlich hörte ich Schritte, die sich näherten, und ahnte nichts Gutes. Ich rechnete damit, dass Morpheus erschien oder schlimmer noch, meine Mutter. Umso überraschter war ich, Verek zu sehen, der geschickt den Felsen hinaufgeklettert kam und sich neben mich setzte.
Fabelhaft.
Er trug rote Surfershorts, ein weißes Tanktop und schwarze Sandalen. Verek war sonnengebräunt und sah mit seiner Ray-Ban-Sonnenbrille und einer Kette aus Haifischzähnen einfach umwerfend aus.
Na ja, das Haifischgebiss hätte nicht unbedingt sein müssen. Er grinste, als ich ihn darauf ansprach, oder vielleicht war es auch nur eine Grimasse, die seine eigenen weißen Zähne aufblitzen ließ. »Aber ich habe sie dem Hai eigenhändig gezogen.«
Darauf ging ich jede Wette ein. Der arme Hai.
Er blickte sich um und hielt dabei den Kopf leicht zur Sonne geneigt. »Schön hier.«
Ich blieb stumm, denn ich hatte keine Lust, mich oder meine Gefühle einem Kerl zu offenbaren, der ziemlich sicher ein Spion meines Vaters war. Außerdem wusste ich nicht, ob er hier war, um mit mir zu sprechen oder mir wieder auf die Pelle zu rücken.
Doch meine Schweigsamkeit schien ihn nicht zu irritieren. »Morpheus tut wirklich, was er kann, um Karatos zu finden.«
»Ach ja?« Ich wandte ihm den Kopf zu. »Woher willst du das wissen?«
»Weil er mich gebeten hat, die Suche persönlich anzuführen.«
Ich musterte ihn lange und eingehend – wie wunderschön er war! Er hatte die Sonnenbrille nach oben geschoben, so dass ich in seine Augen sehen konnte, und er gab mir alle Zeit der Welt, sein Gesicht nach einer Spur von Unwahrheit zu durchforsten.
Doch ich konnte nichts entdecken. »Und wieso suchst du dann nicht?«, fragte ich, wandte den Blick wieder ab und zog mich wie ein Einsiedlerkrebs in mein Schneckenhaus zurück.
»Weil ich stattdessen dich gefunden habe.«
Seufzend schlang ich die Arme um meine angewinkelten Beine und stützte mein Kinn auf ein Knie. »Bist du mein Freund oder ein Lakai meines Vaters?«
Er weigerte sich, meine Frage eindeutig zu beantworten. »Weder noch.«
»Und warum bist du dann so nett zu mir?«
Er kniff die Augen zusammen, während er seinen unglaublich muskulösen Körper zu mir drehte. Seine Miene war grimmig, was mich nicht überraschte. »Um eines klarzustellen, Prinzessin – diese Welt hier ist keine freundliche Welt. Du wirst hier nicht vielen Wesen begegnen, die es ›gut‹ mit dir meinen. Entweder man ist dir gegenüber loyal, so wie ich, oder eben nicht. Ich bin loyal. Der Traumgarde gegenüber, aber auch deinem Vater gegenüber und demzufolge auch dir.«
Ich schluckte. »Wieso hast du dann versucht, mich zu töten?«
»Ich habe dich nur getestet. Die Garde muss wissen, welches Potenzial in dir steckt.«
Das klang unheilvoll, und ich beschloss, besser keine weiteren Fragen zu stellen.
»Morpheus hat wegen der Beziehung zu deiner Mutter eine Menge Kritik einstecken müssen«, sagte Verek in die Stille hinein.
»Geschieht ihm recht.«
»Und deinetwegen auch.«
Dieser leise, sanft gesprochene Nachsatz ließ mich aufhorchen. Ich hob den Kopf und begegnete seinem klaren Blick. Dabei war ich nicht einmal überrascht, denn Karatos hatte bereits Ähnliches angedeutet.
»Meinetwegen?«
Vereks Gesicht schien ungerührt. »Du bist nicht dumm. Ich denke, du weißt ganz
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