Tochter der Träume / Roman
Kopf. Mein Wille – meine ganz persönliche Willenskraft – saß in meinem Inneren. In meiner Seele, wie manch einer jenen nicht greifbaren, wesentlichen Teil unseres Menschseins nennen mochte. Oder das Es, wie andere es wiederum nannten, die große Gesamtheit der im Unterbewusstsein liegenden Instinkte, die unser Überleben durch alle Zeiten hindurch sicherten. Wie auch immer man es bezeichnen wollte, in meinem tiefsten Innern erspürte ich die Quelle meiner Kraft. Sie aufzutun und schließlich anzuzapfen war nicht einfach, vielmehr ein bisschen so, als suchte man nach der richtigen Stelle für ein Diaphragma oder bestimmte Muskeln für ein gezieltes Bauchtraining. Aber schließlich hatte ich es geschafft und fühlte, wie mich die Energie von Kopf bis Fuß durchströmte.
Es war wie eine entfesselte Gewalt, die ich auf Verek losließ.
Die Fluten meiner Energie brachen mit Macht über ihn herein. Eine lichthelle Druckwelle schlug mir entgegen, und ich duckte mich und ging in Deckung vor diesem Licht, das ich selbst entfacht hatte. Als ich wieder aufsah, lag Verek benommen rücklings auf dem felsigen Sandsteinboden.
Und er war nackt.
Ich war erschrocken, fand es gleichzeitig aber auch sehr komisch. Ich schlug mir die Hand vor den Mund und ging auf ihn zu, während er sich aufzusetzen versuchte. »Alles in Ordnung?«, fragte ich.
Völlig unbeschämt von seiner Nacktheit und auch völlig unversehrt, blinzelte er mich an. »Warum sagst du nicht einfach Bescheid, wenn du mich nackt sehen willst?«
Dass er es so humorvoll nehmen würde, hätte ich nicht gedacht. Ich lachte und reichte ihm die Hand, die er bereitwillig ergriff und sich daran auf die Füße zog. »Ich schätze, ich habe mich nicht intensiv genug auf das Armband konzentriert.«
»Nein, deine Konzentration war einwandfrei«, sagte er, während er plötzlich wieder seine Kleider trug. »Wir müssen nur üben, deine Kraft und Energie zu kontrollieren. Davon hast du nämlich eine ganze Menge.«
Trotz seines grimmigen Gesichts – das für ihn wohl normal war – konnte ich mir bei dieser Bemerkung ein Schmunzeln nicht verkneifen. Ja, sie ließ mich sogar hoffen. »Wirklich? Glaubst du, dass ich stark bin?«
Er war plötzlich sehr ernst. »Ich glaube, dass du sogar sehr stark bist, Dawn. Und ich glaube, dass wir das vorerst für uns behalten sollten, als unser kleines Geheimnis.«
Eine leichte Angst beschlich mich. »Gut.«
Doch dann glitt ein Lächeln über sein Gesicht, als er plötzlich eine neue Kette und neue Armbänder trug. »Oh, und noch etwas. Sag niemandem, dass du mich nackt gesehen hast.«
Ich hätte mir lieber die Augen ausgestochen, als am folgenden Morgen zur Arbeit zu gehen. Dabei sah ich aus, als hätte ich genau das versucht. Ich war völlig übernächtigt und hatte rote Augen, als ich mich durch die Recherchen und den Papierkram für Dr.Canning quälte.
Ich versuchte, nicht an die vergangene Nacht bei meinen Eltern zu denken. Es gab nichts, was ich ändern konnte oder wollte. Ich wünschte, ich könnte mit Noah darüber sprechen, aber der würde mich wohl kaum anhören wollen. Trotzdem hätte eine kleine Stimme in mir ihm nur allzu gern zugeflüstert, dass ich den Großteil der Nacht mit einem anderen Mann verbracht hatte – einem ausgesprochen schönen (wenn auch etwas gruseligen) Mann. Schade nur, dass der Mann, den ich nackt zu sehen bekommen hatte, nicht derjenige war, den ich nackt sehen wollte!
Doch immerhin hatte Verek mir geholfen zu lernen, wie ich einzelne Dinge bezwingen und meine Kraft bündeln und kontrollieren konnte. Ich fühlte mich, als hätte ich etwas erreicht – als könnte ich mich tatsächlich eines Tages allein gegen Karatos zur Wehr setzen. Dafür war ich ihm dankbar.
Und das hatte ich ihm auch gesagt, kurz bevor wir vor Anbruch des Tages auseinandergingen. Außerdem sagte ich ihm, dass er durchaus der Lakai meines Vaters sein konnte und auch mein Freund. Daraufhin hatte er gelächelt und mich herzlich an sich gedrückt. Für den Moment würden wir nur Freunde sein, nicht mehr. Auf Noah hatte ich eine Stinkwut, weil er derjenige war, von dem ich mehr wollte als nur Freundschaft, und weil es mit Verek sehr viel einfacher wäre.
Also stürzte ich mich in die Arbeit und versuchte, keine weiteren Gedanken mehr an meine Mutter, meinen Vater, Verek oder Noah zu verschwenden. Ich blätterte gerade durch einen Artikel über SUNDS und fragte mich, wie viele dieser Todesfälle wohl eine natürliche
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