Tochter Der Traumdiebe
unmöglich gewesen.«
»Wie das?«, wollte ich wissen.
Ihre Stimme klang beiläufig, als hätte ich etwas völlig Offensichtliches übersehen.
»Weil«, erklärte sie, »weil er an diesem Punkt eurer gemeinsamen Geschichte sein größtes Verbrechen noch nicht begangen hatte.«
9. Kriegsrat
Ich hatte gewisse Schwierigkeiten mit den Vorstellungen von der Zeit, die in Mittelmark galten. Es schien, als wären wir alle dazu verdammt, in Milliarden gegenläufiger Realitäten immer dasselbe Leben zu führen, kaum fähig, die Lebensgeschichte zu verändern und dennoch ewig strebend, es doch einmal zu erreichen. Gelegentlich hatte einer damit Erfolg und die aufgewendete Mühe, um den Lebensweg zu verändern, trug irgendwie dazu bei, das Gleichgewicht des Universums zu erhalten - oder eher doch die Vielfalt der alternativen Universen, die Oona als ›das Multiversum‹ bezeichnete, wo alle unsere Geschichten in der einen oder anderen Form verwirklicht wurden.
Oona war geduldig mit mir, doch ich war eher prosaisch veranlagt und konnte mit solchen Vorstellungen, die meinem Verstand zuwiderliefen, nicht viel anfangen. Nach und nach erfasste ich das Gesamtbild, das mir zu der Erkenntnis verhalf, dass unsere Träume einfach nur Einblicke in andere Lebenswege waren, wobei uns vornehmlich die dramatischsten Augenblicke offenbart wurden, und dass manche Menschen die Fähigkeit besaßen, zwischen den Träumen zu wechseln, zwischen den verschiedenen Lebenswegen, und sie manchmal sogar zu verändern.
Sie sprach mit mir über diese Dinge, nachdem sie mir mein Quartier zugewiesen und mir Zeit gelassen hatte, um mich frisch zu machen. Als ich mich ausgeruht hatte, führte sie mich in die gewundenen Straßen Mu Oorias hinaus, in eine lebendige, dicht bevölkerte Stadt, die viel kosmopolitischer war, als ich es erwartet hätte. Offensichtlich waren tatsächlich nicht alle Menschen in die Dunkelheit verbannt worden. Ganze Stadtviertel waren von Menschen unterschiedlicher Herkunft und Religion bewohnt, verschiedenste Kulturen mischten sich mit jener der Off-Moo. Wir liefen durch Straßenmärkte, wie es sie im modernen Köln geben mochte, und an Häuserzeilen entlang, die ins mittelalterliche Frankreich gepasst hätten. Offenbar nahmen die Off-Moo schon sehr lange Flüchtlinge aus der Oberwelt auf und diese Menschen hatten ihre Gebräuche und Gewohnheiten mitgebracht und sich problemlos mit allen anderen vermischt.
Neben vertrauten Anblicken gab es auch Exotisches. Oona führte mich an spiegelnden schwarzen Pechstein- und Basaltterrassen vorbei, die mit hellen Flechten und Pilzen geschmückt waren. Elegant aus Kalkstein geformte Balkone trugen Bewohner, die manchmal kaum vom Stein zu unterscheiden waren. Diese ewige, funkelnde Nacht war von einer betörenden Schönheit. Ich konnte verstehen, warum sich so viele entschieden hatten, sich hier niederzulassen. Das Sonnenlicht und Wiesen voller Frühlingsblumen mochte man zwar nie mehr sehen, doch man würde auch keine Streitigkeiten mehr erleben, in denen man von einem auf den anderen Augenblick alles verlieren konnte.
Ich verstand die Menschen, die sich hier eingerichtet hatten, ich empfand mit ihnen, aber ich sehnte mich auch danach, die vertrauten rosigen Wangen unserer kerngesunden, rechtschaffenen Bauern in Bek wiederzusehen. Die Einwohner dieses Ortes wirkten nicht wirklich lebendig, auch wenn sie offenbar an ihrem Leben Freude hatten und sich einer hochstehenden Kultur erfreuen konnten. Doch über ihnen dräute die Last der Felsen, sie wussten um die Begrenztheit ihres Landes, allenthalben schien ein etwas bedrücktes Schweigen zu herrschen und sie befleißigten sich einer übertriebenen Höflichkeit, die man in einer geschäftigen Metropole nicht zu finden erwartete. Ich musste diese Welt bewundern, aber ich wäre nie auf die Idee gekommen, mich selbst hier niederzulassen.
Doch würde ich jemals den Rückweg in mein Vaterland finden?
Eine große Niedergeschlagenheit erfüllte mich. Ich liebte mein Land und meine Welt. Alles, was ich wollte, war, eine Gelegenheit zu bekommen, für das zu kämpfen, was ich dort für anständig und ehrenhaft hielt. Ich musste meinen Platz bei denen einnehmen, die sich gegen die feigen Gewaltmenschen zur Wehr setzten. Ich sprach mit Oona darüber, als wir durch die gewundenen Schluchten der Stadt spazierten und die Gärten und die Bauwerke bewunderten, unterwegs mit Passanten Artigkeiten austauschend.
»Glauben Sie mir, Graf Ulric«, versicherte
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