Tochter Der Traumdiebe
der Zeit besucht, soweit ich weiß.«
»Sie hat dich hier zur Welt gebracht?«
»Ich war einer von zwei Zwillingen, wie sie mir sagte.«
»Zwillinge?«
»So hat sie es mir erklärt.«
»Ist das zweite Kind gestorben?«
»Nein, es ist nicht bei der Geburt gestorben. Aber es ist irgendetwas geschehen, das meine Mutter nicht erklären konnte, und wir wurden bald nach der Geburt getrennt. Weit weg, weit weg. Das waren die Worte, die meine Mutter sprach. Mehr weiß ich nicht.«
»Es scheint dir nicht viel auszumachen, wenn deinen Geschwistern etwas zustößt.«
»Ich habe mich mit meinem Schicksal ausgesöhnt. Bis vor kurzem dachte ich noch, du hättest das Kind gefunden und als dein eigenes aufgezogen, aber natürlich weiß ich jetzt, dass dies nicht zutrifft.« Sie drehte sich eilig um und verschwand wieder in der Küche. Der Geruch von Stachelbeerkuchen wehte herüber. Die einfachen Freuden des menschlichen Lebens hatte ich fast vergessen.
Weil es ein Traum war, fand ich nichts Seltsames dabei, dass ich eingeladen wurde, mich an den Küchentisch zu setzen und eine Mahlzeit aus gutem, frischem Brot, frischer Butter, etwas Chandra und einer Flasche Goldfischsoße zu genießen. Danach der Kuchen und hinterher ein guter Schluck, und meine Freude wäre vollkommen.
Trotz aller Hinterlist der Ordnung war ich der jungen Frau gegenüber nicht mehr misstrauisch. Auch das Gefühl, in ihrer Hütte einen Zufluchtsort gefunden zu haben, stellte ich nicht mehr infrage. Das wäre unmöglich gewesen. Ich wusste, dass sie von meinem Blut war. Wäre diese Erscheinung eine Täuschung gewesen, eine Gestaltwandlerin des Chaos, dann hätte ich es sofort bemerken müssen.
Eine Stimme im Hinterkopf warnte mich freilich, dass ich auch keine Hexerei gespürt hatte, als die Ordnung mich so erfolgreich besiegt und mir mein derzeitiges Schicksal beschert hatte. Waren alle meine Kräfte geschwunden? Begann ich erst jetzt, diesen Verlust zu bemerken? War dies nur eine weitere Illusion, die mir nun auch noch das stehlen sollte, was von meiner Seele geblieben war?
Wegen meines Temperaments konnte ich nicht vorsichtig vorgehen. Mit Vorsicht war nichts zu gewinnen. In dieser außergewöhnlichen Hütte inmitten des silbernen Geflechts von Mondstrahlen hatte ich nicht viele Möglichkeiten.
»Dann hast du also keine Ahnung, was aus deiner Schwester geworden ist?«
»Meine Schwester?« Sie lächelte. »O nein, mein lieber Vater. Es war keine Schwester. Wir haben meinen Bruder verloren.«
»Deinen Bruder?« Etwas in mir schauderte, etwas anderes frohlockte. »Meinen Sohn?«
»Vielleicht ist es ganz gut, dass du es nicht gewusst hast, Vater. Denn wenn er tot ist, wie ich vermute, dann würdest du jetzt trauern.«
Ich hatte einen Sohn gehabt und nach Sekunden schon wieder verloren, dachte ich schockiert. Noch ein paar Augenblicke, und die Trauer würde beginnen.
Verwundert starrte ich meine Tochter an. Ich empfand sehr klare, aber auch verwirrende Gefühle. Einem Impuls folgend, der jeden Melnibon£er schockiert und entsetzt hätte, machte ich einen Schritt auf sie zu und umarmte sie. Sie erwiderte die Geste linkisch, als wäre auch sie nicht an derlei gewöhnt. Sie schien sich aber zu freuen.
»Dann bist du eine Traumdiebin«, sagte ich.
Sie schüttelte heftig den Kopf und ich sah ein Dutzend Gefühle über ihr Gesicht ziehen. »Nein. Ich bin das Kind von Traumdieben. Ich habe die Erfahrungen und einige Fähigkeiten erworben, doch mir fehlt die Berufung. Um ehrlich zu sein, Vater, ich bin sogar etwas zwiespältig. Irgendwie halte ich das, was meine Mutter tut, nicht für moralisch vertretbar.«
»Nun, deine Mutter hat mir sehr geholfen, als wir zusammen die Festung der Perle suchten.« Mit Fragen, die die Moral und die Zerrissenheit im Gefühl betrafen, war ich mehr als vertraut.
»Das ist eines der wenigen Abenteuer, von denen sie mir erzählt hat. Sie hat sehr viel für dich empfunden, was angesichts der zahlreichen Liebhaber, die sie über die Jahrhunderte und im ganzen Feld der Zeit hatte, sehr ungewöhnlich ist. Ich glaube sogar, du bist der Einzige, mit dem sie Kinder hatte.«
»Empfand sie besondere Zuneigung oder besondere Abneigung?«
»Sie hat dir nichts nachgetragen, mein Vater. Ganz im Gegenteil. Sie hat voller Freude von dir gesprochen und dich einen großen Krieger genannt. Einen tapferen, mutigen Ritter der Grenzländer. Sie sagte mir, du wärst der Beste aller Traumdiebe geworden. Ich glaube, das war ihr ganz
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