Tochter des Drachen
Dezember 3134
Vincent Kurita verstummte, und das Schweigen, das sich daraufhin im Schwarzen Raum ausbreitete, war so tief, dass es schon fast wieder zu hören war. ISA-Direktor Ramadeep Bhatia war sich des Rauschens seines Atems durch die Nase bewusst und auch des Knirschens der Lederschuhe, als ein Adjutant unbehaglich das Gewicht verlagerte. Und doch war Schweigen auch von Wert, ein Werkzeug, das ebenso nützlich und potenziell tödlich sein konnte wie der treffsicherste Meuchelmörder, wenn man es einzusetzen verstand und wusste, wann und wo es effektiv war. Bhatia wusste dies, und nun entschied er, dass Schweigen auch eines der wenigen Talente Vincent Kuritas war - insoweit man diesen Begriff überhaupt anwenden konnte.
Bhatia ließ den Blick seiner kohlschwarzen Augen über die anderen am Tisch schweifen. Das waren die Kriegsherren, die er relativ leicht beobachten konnte, denn sie saßen ihm direkt gegenüber, an der Längsseite der Rauchglasplatte aufgereiht. Außerdem standen noch drei - allerdings völlig unbedeutende - Adjutanten an der Rückwand, einer pro Tai-shu. Ein Kriegsherr, der nicht Ziel der spitzen Bemerkungen des Koordinators geworden war - Peshts Doppo Sai-to - wirkte unsicher, sogar ein wenig ängstlich, was vermutlich gut so war, denn ein verängstigter Mann war leicht zu zähmen. Saito war vielleicht kein Schwächling, aber er war dennoch ein Wurm, vom Luxus verdorben: ein rotgesichtiger, teigiger Bursche mit aufgedunsenen Wangen und kurzen Fingern voller prächtiger Ringe, so fett wie Würste und mit Grübchen an den Gelenken.
New Samarkands Tai-shu Matsuhari Toranaga hingegen wirkte hungrig. Toranaga war von stämmiger Statur und überdurchschnittlich groß. Er hatte ein quadratisches Gesicht mit funkelnden schwarzen Augen. Mehr und immer mehr. Er ist unersättlich, obwohl sein Territorium das größte ist und an die Vereinigten Sonnen grenzt. Toranaga war hochintelligent und von einer grenzenlosen Machtgier getrieben. Trotzdem konnte er warten. Möglicherweise war dies genau der Mann, den Bhatia brauchte.
Möglicherweise. Bhatias Augen glitten weiter zu dem dritten Mann, einem Stier: Mitsura Sakamoto, Kriegsherr von Benjamin, ein Nachkomme Tahara Sakamotos vom 1. Schwert des Lichts ... und ein verdammter Hitzkopf. Wäre er nicht so wertvoll, ich würde Sakamoto seinem Wein und seinen Weibern überlassen, und mich auf Toranaga konzentrieren. Und auf den recht interessanten Joker, den meine Spione in diesem Spiel entdeckt haben. Aber noch ist es nicht so weit.
Das Schweigen endete, als Sakamoto mühsam schluckte. »Tono, ich muss protestieren. Ich habe nichts getan, wofür ich mich entschuldigen müsste, und noch weniger, was eine Erklärung verdient.«
Mal sehen, wie der Pfau damit fertig wird. Bhatia hielt sich bedeckt, wie es Sitte und Anstand verlangten. Man blickte den Koordinator nicht an, um eine Antwort zu fordern, bis dieser selbst das Wort ergriff, aber Bhatia sah ihn trotzdem. Die gläserne Tischplatte war auf Hochglanz poliert. Der Koordinator saß rechts neben ihm, und durch halb geschlossene Lider beobachtete Bhatia Kuritas Spiegelbild, geisterhaft und ein wenig gespenstisch. Der Kopf schien über der schwarzen Shoujacke mit reicher Goldstickerei zu schweben, die wie das Licht ferner Sterne funkelte. Ja, Vincent Kurita war ein Pfau, voller Pomp und Prunk, darunter aber hohl. Eine bittere Pille, jedoch eine, die das Kombinat schlucken musste - vorerst.
»Nicht?« Kuritas Ton war mild, und Bhatia bemühte sich, Untertöne von Missfallen oder Bosheit darin zu entdecken. Vergebens. Er unterdrückte ein Seufzen. Was kann diesen Mann aus seiner Selbstzufriedenheit reißen? Er schaute hoch und wusste bereits, was er sehen würde: Eine breite, glatte Stirn unter rabenschwarzem Haar, das zu einer Art hoher
Puderquaste wie eine Gewitterwolke hochgekämmt war - Schau und Schein; Kuritas echtes Haar war weiß wie Zucker. Haselnussbraune Augen in einem ovalen, leicht femininen Gesicht, das gerade die ersten Zeichen des Alters verriet, in Form kleiner Fält-chen in den Augenwinkeln. Kuritas Gesicht wirkte ausdruckslos, die Mundwinkel in der höflich verwunderten Mimik eines Gastgebers gebogen, der Schwierigkeiten hat, sich an den Namen eines Gegenübers zu erinnern, dem er gerade vorgestellt wurde.
Der Koordinator legte die perfekt manikürten Fingerspitzen aneinander. »Du überschreitest bewusst die Grenzen der Präfektur I. Nicht nur ein- oder zweimal, sondern ein Dutzend Mal! Du
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