Tochter des Drachen
Windungen über Rückenlehne und Armstützen zogen. Sie war sich bewusst, dass der fünfzehige Drache nicht seit jeher den Koordinator repräsentierte. In längst vergangenen Zeiten auf Terra waren es die Chinesen gewesen, die den mit fünf Krallen bewehrten Drachen als Symbol für kaiserlichen Adel benutzt hatten. Die Herrscher des antiken Japan hatten auf dem Chrysanthementhron gesessen, auch wenn niemand mehr genau wusste, wie dieser Thron ausgesehen hatte. Es war nur bekannt, dass die Kiku das Mon des Tenno - und der Tenno zugleich der Hohepriester der Shinto-Religion gewesen war. Vielleicht hatte Shiro Kurita bei der Gründung des Kombinats das chinesische Drachenmotiv ausgeliehen, um die Macht des Koordinators über das Reich deutlich zu machen. Vielleicht hatte er auch einfach nur eine Schwäche für Drachen gehabt. Auf jeden Fall wirkte ein Drache sehr viel Ehrfurcht gebietender als eine Blume.
Der Drachenthron war nicht sehr hoch, nur einhundertachtzig Zentimeter, und vielleicht halb so breit. Als Sitzfläche diente ein goldenes Seidenkissen, und passende Polster lagen um die Armstützen. Ein drei Stufen hoher, kunstvoll geschnitzter Schemel gestattete dem Koordinator, auf den Thron zu steigen. Zu beiden Seiten des Möbels standen goldene Weihrauchbecken, aus denen bleistiftdünne weiße Rauchfäden zur Decke stiegen. Der Duft von Sandelholz stieg ihr in die Nase. Der Thron war eine in jeder Hinsicht vollendete Kopie des Originals.
Für das Drachengemälde hinter dem Thron galt dies allerdings nicht. Das tiefdunkle Schwarz der auf Hochglanz polierten Steinplatte aus Obsidian beherrschte die gesamte Stirnwand. In ihrem Herzen, in der exakten Mitte der Platte, ruhte der Kurita-Drache: ein vollkommenes Rund aus tief blutrotem Karneol von vier Metern Durchmesser, eingeschlossen von einem dünnen Ring aus glänzendem Rosengold, der den Augen einen Streich spielte und dafür sorgte, dass der Drache den Betrachter geradezu aus dem schwarzen Hintergrund anzuspringen schien. Seine Schuppen waren goldgesäumt, das sichtbare Auge ein riesiger Amethyst. Die Zähne des Drachen bestanden aus purem Elfenbein. Und doch, so prachtvoll all das war, der Drache zog ihren Blick nicht auf sich, ebenso wenig die emaillierte Darstellung Terras mit ihren blauen Ozeanen und grünen Kontinenten, sondern die Repräsentation des Kombinats.
Obwohl der Drache und das Kombinat identisch sind. Ihr scharfer Blick sah, was ihr schon immer aufgefallen war, selbst als kleines Mädchen: Einige der Edelsteine fehlten. Das war aber kein Fehler. Sie hatte es in den alten Unterlagen überprüft, und ein ganzer Streifen, der Distrikt Dieron ebenso wie umstrittene Gebiete und Besitztümer der Vereinigten Sonnen, die sich in die Flanke des Kurita-Raums gefressen hatten, fehlte.
Rechts von ihr erklang eine Stimme. »Ja, sie sind wunderschön. Wir betrachten sie auch gerne.«
Lächelnd neigte Emi den Kopf und blickte zum Koordinator hoch. »Ich hätte angenommen, Ihr könntet sie leicht übersehen, Tono. Schließlich seht Ihr sie jeden Tag.«
»Ah, du spielst darauf an, dass der Wert und die große Schönheit eines Objektes zunehmend in den Hintergrund treten, je öfter man es sieht, bis sie gar nicht mehr wahrzunehmen sind.« Ein schelmisches Grinsen wanderte von den Lippen Vincent Kuritas bis zu seinen bemerkenswert klaren, nussbraunen Augen. »Mit anderen Worten: Übergroße Nähe zerstört den Respekt.«
Emi musste sich in die Wange beißen, um nicht laut loszulachen, auch wenn der Koordinator offensichtlich wusste, was in ihr vorging, denn sein Lächeln weitete sich zu einem breiten Grinsen, und seine Augen funkelten. Trotz seiner Jahre und der zunehmend tiefer werdenden Linien auf seinem Gesicht hatte sie dort noch nicht das geringste Zeichen von Alter entdeckt, keinen milchig weißen Rand um die Iris. So soll es auch sein, denn der Drache benötigt eine klare Sicht. Dennoch fiel es immer schwerer, daran zu glauben. Die Tage verstrichen, die Republik brach auseinander ... und der Koordinator schwieg und trug nur seine Garderobe spazieren. Ein ungehöriger Gedanke, aber nichtsdestoweniger wahr. Emis Blick glitt über seine Kleidung: eine prunkvolle Brokatjacke aus kräftig rot-goldenen, ineinander verwobenen Lotusblüten. Eine Drachenbrosche aus emailliertem Obsidian mit funkelnden Rubinintarsien. Eine ebenso fürstliche Hakama aus feinster schwarzer Seide. Selbst die schwarzen Tabisocken waren mit Drachen aus Goldfaden verziert.
Offenbar
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