Tochter des Drachen
vernichtet ... Emi unterbrach diesen Gedankengang augenblicklich. Dagegen konnte sie ohnehin nichts unternehmen - nicht ohne ihre Ehre aufzugeben. Außerdem hatte sie die listigen Blicke bemerkt, mit denen Bhatia ihren Vater gelegentlich musterte. Ich kenne deine Gedanken, Direktor. Sie sind tief, aber ich erkenne auch deinen Ehrgeiz: eine Flutwelle, die meinen Vater aus dem Amt spülen würde, und meinen Bruder gleich mit...
Ein Anklopfen an einer Shoji unterbrach ihre Gedanken, gefolgt von mehreren leisen Klopfzeichen. Ein Code. »Herein.« Die halb transparente Reispapierwand glitt zur Seite, und Joji Ashida, ihr persönlicher Leibwächter und einer ihrer vertrauenswürdigsten O5S-Agenten, trat ein. Ashida war fünfunddreißig, ein Jahr älter als Emi, aber er hielt und bewegte sich wie jemand, der sehr viel älter und erfahrener war. In seinen schwarzen Augen funkelte ein scharfer Verstand, und schulterlanges Haar, so schwarz wie Rabenschwingen, war auf seinem Kopf zu einem traditionellen Dutt gebunden.
Er verbeugte sich. »Jokan, ich habe Neuigkeiten.«
»Sprich.«
»Tai-shu Sakamoto hat ein Treffen der Oyabun einberufen: Atsutane Kobayashi von Kitalpha, Jazeburo Enda von Shibuka und Hideki Ame von Minukachi.«
Die Nachricht versetzte ihr einen Stich. »Wozu sollte Sakamoto ... Was könnten Yakuza?« Sie keuchte auf. »Sakamoto will Krieg.«
»Aber ein General braucht Truppen, und Truppen benötigen Nachschub. Also wendet er sich an die Oyabun. Sie sind reich, weil Sakamoto sie im Austausch für drei Juckreize, die regelmäßig gekratzt werden müssen, gewähren lässt.« Ashida zog die Nase hoch. »Süßigkeiten, Frauen und Wein.«
»Du hast die Macht vergessen«, murmelte Emi, doch ihre Gedanken rasten. Wie konnte sie diese Information zum Vorteil ihres Vaters - und des Kombinats - einsetzen? »Was ist mit Bhatia?«
»Schwer zu sagen. Entweder lässt er den Verrat zu, oder er weiß nichts davon.«
»Was würde er gewinnen, falls er davon weiß?«
»Das hängt von ihm selbst ab. Er könnte warten, bis Sakamoto stolpert, oder er lässt den Dingen ihren Lauf, selbst wenn Haus Kurita darüber einstürzt, in der Hoffnung, Sakamotos Gunst zu erringen.«
Emi traf eine Entscheidung. Sie ging zu ihrem Schreibtisch hinüber und öffnete eine Schublade, aus der sie eine Holoviddiskette zog. Auf einen Knopfdruck hin glitt das Holz zurück. Ein flacher Bildschirm faltete sich auf und rastete ein. Blaues Licht zeigte, dass die Holoanlage aufnahmebereit war. »Wir werden keines von beiden abwarten. Geh und hole Miko. Ich habe einen Auftrag für sie.«
Ashida kehrte bald darauf mit einer jungen Juku-rensha zurück. Die Augen des Mädchens waren verquollen, ihr Haar wirr. Der einfache schwarze Kimono war etwas schief und nachlässig verknotet. Der Stoff fiel auf einer Seite herab und gab den Blick auf einen Brustansatz frei. Sie verbeugte sich. »Ihr habt gerufen, Jokan.«
»So ist es«, bestätigte Emi, warf die Diskette aus und stand auf. Sie vertraute diese Aufgabe nur ungern einer Novizin an, aber Miko Tanaka war eines ihrer gelehrigsten und erfahrensten Mädchen, schnell von Begriff und besonders klug. Weder Emi noch Ashida durften in irgendeiner Weise mit dieser Nachricht in Verbindung gebracht werden. Sie reichte Miko die Diskette. »Ich möchte, dass du dies als dringende Botschaft abschickst.« Sie nannte dem Mädchen die Anschlussnummer und den Empfänger der Nachricht.
Der Schatten eines Stirnrunzelns trat auf Mikos glatte Züge. »Eine dringende Botschaft, Jokan?« Mikos Augen verengten sich kaum merklich. »An einen Tuchhändler?«
Emi sah, dass das Mädchen jetzt hellwach war. Ihr gelang ein leises Kichern, das hoffentlich verlegen wirkte. »Deine Wahrerin war nachlässig. In zwei Monaten findet ein Staatsempfang statt, und ich benötige einen neuen Kim ono.«
Eine Lüge. Das Mädchen steckte die Diskette in den Ärmel, verbeugte sich und lief hinaus. Von einer Wahrerin der Hausehre wurde erwartet, dass sie die Wahrheit sagte. Aber die Umstände hatten eine Lüge notwendig gemacht, und sie hatte sich gebeugt. Emi fragte sich, wie viele Regeln sie wohl noch beugen würde. Oder brechen.
Ramadeep Bhatias Haus, Imperial City, Luthien Militärdistrikt Pesht, Draconis-Kombinat
21. Januar 3135, Mitternacht
Bhatia konnte nicht schlafen. Er hatte die östlichste Shoji öffnen lassen. Jetzt stand er in der Öffnung. Eine Brise strich über den Tonadasee und trug den Geruch von Wasser und Jasmin herüber.
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