Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
meine, Heine und Joachim waren ja da.«
»Also bist du alleine gegangen.«
»Ja, Mutter.«
Mechthild sagte nichts mehr, und Benedikta setzte sich auf die Bank, saß mit dem Kinn auf dem Ellbogen da und gab sich Mühe, so auszusehen, als interessiere sie sich für das Brettspiel zwischen Hugo und Irmengard. Hildegard saß wie gewöhnlich da und tat nichts Besonderes. Ab und zu strich sie mit beiden Händen über die Tischplatte, wie ein Zimmermann, der untersucht, ob er seine Arbeit gut gemacht hatte. Benedikta konnte spüren, wie der Blick des Kindes sie fand und an ihr hängen blieb. Es irritierte sie, dass Hildegard sie nicht zufrieden ließ, so wie die anderen es taten.
»Du hast Male auf der Stirn«, sagte Hildegard plötzlich, mit einer Stimme wie ein Jagdmesser, das einen Schnitt in die Haut setzen kann, so präzise und fein, dass es nicht sofort beginnt zu bluten. Blitzschnell wandte Mechthild sich den Mädchen zu. Hildegard sah Benedikta weiter an. Ihr Blick glich dem eines Falken, wenn er die Haube abgenommen bekommt und sofort mit seinen kleinen Augen nach Beute sucht. Erst mit Verzögerung verstand Benedikta, was die Schwester sagte: Male auf der Stirn, wie Abdrücke von den Klauen des Teufels, wie das Böse, das in sie gefahren war, das aus ihr herausgestrahlt hatte, das sie dazu gebracht hatte, Joachim zu locken, ihn mit Raserei und unzüchtigen Gedanken angesteckt hatte. Sie verbarg ihr Gesicht in den Händen, während der Teufel in Gestalt eines Ziegenbocks in ihrer Brust trampelte.
Mechthild erhob sich und riss ihr die Hände vom Gesicht. Ein Fluss aus Tränen und Rotz strömte aus ihr, ein Gurgeln, als habe der Teufel ihre Stimme gestohlen. Sie wollte die Hände wieder vors Gesicht schlagen, wollte um jeden Preis ihre Stirn verbergen, denn sie fühlte, wie die Male brannten, spürte, dass Mechthild sie im nächsten Moment bei den Hörnern packen und quer durch den Saal schleudern würde.
Mechthild zwang ihr die Hände mit einer harten Bewegung vom Gesicht, inspizierte schweigend ihre Züge. Mit dem Zeigefinger rieb sie so hart darüber, dass es brannte, und Benedikta verstand.
»Druckstellen«, sagte Mechthild.
»Ich habe mich hingesetzt und den Kopf auf die Knie gelegt«, schluchzte Benedikta, »ich habe mich im Obstgarten ausgeruht, mit dem Kopf auf den Knien.«
»Dich ausgeruht? Im Obstgarten?« Mechthild blieb vor ihr stehen.
Benedikta nickte nur. Es war besser, nichts zu erklären.
Mechthild nickte ebenfalls. Dann wandte sie sich Hildegard zu und verpasste ihr ohne Zögern eine Ohrfeige. Hildegard saß ganz still und nahm die Zurechtweisung entgegen, fasste sich noch nicht einmal an die Wange, obwohl ihr Tränen in die Augen stiegen.
Es war nicht gerecht, das wusste Benedikta sehr gut, aber dennoch hatte sie sich darüber gefreut, dass es ausnahmsweise einmal Hildegard war, über die es hereinbrach. Das merkwürdige Kind, das ständig Ruhe haben musste, das Mechthilds Gedanken einnahm, sodass kaum noch Platz für anderes war. Wäre es Hugo gewesen, hätte er geheult, bis er nach draußen geschickt worden wäre, aber Hildegard nahm ihren Schlag stumm entgegen, was die Freude eine Ahnung stutzte. Als sie ins Bett sollten,ging Benedikta nicht gleich mit Clementia, sondern folgte Hildegard und Agnes den Flur hinunter, ohne genau zu wissen, was sie wollte. Weil Agnes voran in Hildegards Kammer ging, standen die beiden Schwestern einander gegenüber. Hildegard ging ihr kaum bis zur Brust, obwohl sie schon acht Jahre alt war. Das schlechte Gewissen hatte Benedikta gepackt und sie hatte Hildegard stumm übers Haar gestrichen.
23
Nach acht Tagen kehrt Hildebert nach Bermersheim zurück. Er geht an Mechthild vorbei, ohne zu grüßen. Sie läuft in der kleinen Stube auf und ab, weil es im Rücken weh tut, wenn sie sitzt. Sie fragt ihn nichts und lässt ihn den ganzen Nachmittag über in Frieden. Nach der Abendmahlzeit werden sein Schweigen, die Rückenschmerzen und die lautstarken Stimmen der Kinder unerträglich, und sie schickt Kinder samt Dienstmädchen nach draußen. Sobald sie alleine sind, steht er auf, um zu gehen, doch sie hält ihn zurück. Sie packt seinen Arm, bevor er die Tür erreicht, er bleibt stehen, weicht ihrem Blick aber aus.
»Mit Hildegard wird es so, wie du es wünschst«, sagt er, immer noch ohne sie anzusehen, und sie lässt los.
Vom Fenster aus sieht sie ihn quer über den Hofplatz zum Stallgebäude gehen, wo Joachim aus der kohlschwarzen Türöffnung
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