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Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)

Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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worden. Doch so farblos das Land hier ist«, schloss Runa, »so karg und so arm an kräftigen Bäumen, muss Ymir wohl missgestaltet gewesen sein.«
    Gisla schüttelte den Kopf. Sie kam nicht umhin, Runa zuzustimmen, dass die Ödnis keine heimatlichen Gefühle weckte, aber im Stillen sagte sie sich, dass die Geschichte von Ymir heidnisches Geschwätz war, dass nicht die Götter, sondern der eine wahre Gott die Welt erschaffen hatte, und dass dieser eine wahre Gott gesehen hatte, dass sie gut war. Für sie war in diesem Augenblick nichts gut, aber sie kam sich auf einmal kleingläubig vor, nicht darauf zu hoffen, dass es besser werden könnte.
    Eines Tages stießen sie plötzlich auf eine Gruppe Häuser. Nichts kündigte sie an - keine Rauchsäule, die gen Himmel stieg, kein Laut, keine Wagen- oder Fußspur. Der Weg, den sie genommen hatten, machte einen Bogen, und dann sahen sie das kleine Dorf. Der Palisadenzaun, der das kleine Dorf einmal vom Umland abgegrenzt hatte, war zerstört, die Dächer der Häuser wiesen große Löcher auf, aber dennoch war dies ein Ort, an dem Menschen gelebt hatten.
    Runa und Gisla hielten den Atem an, dann gingen sie vorsichtig auf das Dorf zu. Immer noch sahen und hörten sie nichts. Kein Geräusch - weder gackernde Hühner noch grunzende Schweine, noch das Stöhnen der Alten oder das Lachen der Kinder. Wer immer an diesem Ort gelebt hatte, war entweder gestorben oder hatte das Dorf verlassen.
    Gisla zögerte, doch als Runa beherzt über die verwitterten Palisaden stieg, folgte sie ihr. Zwischen einem der Häuser und dem Zaun lag ein Garten, in den einst Bäume und Sträucher gepflanzt worden waren, doch deren Früchte - Äpfel, Haselnüsse, Himbeeren, Pflaumen, Schlehen und Kirschen - waren längst verrottet. Der Wind fuhr stöhnend durchs karge Geäst.
    »Wie merkwürdig«, murmelte Runa, ohne hinzuzufügen, was sie mehr erstaunte: dass sie auf dieses Dorf gestoßen waren oder dass es leer stand.
    Die Häuser waren aus Holz und Lehm errichtet worden. Die Wände hatte man mithilfe eines Gitterwerks aus Holzplanken gefertigt und ihnen mit senkrechten Balken an den Ecken, die mit Ruten umflochten waren, Stabilität verliehen. Die Ritzen zwischen den Holzplanken waren mit Reisig oder Lehm zugestopft. Einige Häuser waren von Wind, Wetter oder vielleicht von Angreifern zerstört, andere sahen erstaunlich robust aus.
    Tief in den Boden versenkt waren die Vorratskammern. Ihr erster Gang führte die beiden jungen Frauen in eine von diesen, um nach Essen zu suchen. Im trüben Licht konnten sie zunächst kaum etwas erkennen, und Gisla hielt den modrig riechenden Raum schon für leer, als sie plötzlich mit den Füßen gegen ein Fass aus Birkenrinde stieß. Äpfel und Pflaumen befanden sich darin, und diese waren nicht verrottet, sondern getrocknet.
    Gierig schlangen die Frauen sie herunter, durchsuchten nach der ersten Vorratskammer eine zweite. Sie fanden zwar nichts, um den immer noch knurrenden Magen zu beruhigen, gleich daneben allerdings, in der Mitte der Gehöfte, stand ein Brunnen, aus dem sie mit einem Eimer eiskaltes, klares Wasser schöpften und durstig tranken.
    Die Wasserleitungen aus Holz, die einst vom Brunnen weg zu den Häusern geführt hatten, waren völlig zerstört - erst vor nicht langer Zeit instand gesetzt worden waren aber die Pfade, die die Häuser miteinander verbanden: Man hatte Holzbohlen dicht aneinandergelegt und unter das Holz große Steine gelegt, damit es nicht faulig wurde.
    Bis jetzt hatten Gisla und Runa kaum ein Wort gewechselt, nun wurde die Stille unerträglich. Es war ein anderes, irgendwie verbotenes Gefühl, inmitten einst bewohnter Häuser zu schweigen als im Wald oder am Meer.
    »Wer hier wohl gelebt hat?«, sinnierte Gisla laut.
    »Bauern«, murmelte Runa, »vielleicht auch Fischer.«
    Ob diese geflohen oder ermordet worden waren, sprachen sie nicht aus.
    Schließlich betraten sie eines der Häuser, das ihnen am besten erhalten schien, und als Runa das Innere gründlicher musterte, stellte sie erstaunt fest, dass es den Wohnstätten ihrer Heimat glich: Vielleicht, weil Nordmänner und nicht Franken hier gelebt hatten, vielleicht aber auch, weil die beiden Völker mehr gemeinsam hatten, als gedacht.
    Der Boden bestand aus gestampfter Erde; das Stroh und die Speisereste, die achtlos darauf fallen gelassen worden waren, waren verfault. Nicht weit von der längst erkalteten Feuerstätte befanden sich ein paar Bänke und ein Erdpodest - offenbar die

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