Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)
mehr ganz so groß, die Gier nach jedem Bissen nicht mehr ganz so schmerzhaft war, verwendete sie mehr Zeit und Sorgfalt auf die Zubereitung der Speisen. Bis jetzt hatte es nur gezählt, möglichst viel zu essen, egal ob roh oder halb verbrannt, nun erinnerte Runa sich daran, wie köstlich Asruns Fische geschmeckt hatten, die diese in Blätter und Kräuter eingewickelt und zwischen heißen Steinen langsam gegart hatte.
Sie fing Marder, Otter oder Biber; einmal sah sie in der Ferne einen Rothirsch, doch der war zu groß, um ihn zu erlegen. Ein anderes Mal stieß sie auf ein paar verendete Frischlinge einer Wildsau. Sie war nicht sicher, ob das Fleisch nicht schon verdorben war, aber nahm sie dennoch mit.
Runa steckte Gisla mit ihrer Lust am Experimentieren an. Gemeinsam kochten sie das Fleisch in Wasser, später erprobten sie weitere Zubereitungsarten, die Runa von der Großmutter kannte, brieten das Fleisch entweder auf der Feuerstelle zwischen glühenden Holzscheiten oder garten es in Schüsseln aus Speckstein, die direkt in die Glut gebettet wurden. Vor allem nahmen sie sich die Zeit, das Fleisch vorher weich zu klopfen.
Nicht weit von der Siedlung entdeckte Runa eines Tages einige Felder. Die Bewohner hatten ihr Dorf vor der Ernte verlassen, die meisten Ähren waren vom Wind oder erstem Schnee geknickt worden und die Körner im sumpfigen Boden verfault. Dennoch suchte sie gemeinsam mit Gisla Ähre für Ähre nach noch nicht verdorbenem Korn ab, zerstampfte die wenigen, die sie sammelten, mit einem Mörser, verrührte sie mit Wasser und buk sie auf einem heißen Stein zu einem dünnen Fladen. Die Fladen schmeckten wie Leder, aber wenn sie die Augen schlossen und den Geschmack von Brot heraufbeschworen, konnten sie sich kurz vorgaukeln, sie bissen in eben solches: außen kross und innen saftig.
Ja, sie waren satt, und sie würden satt bleiben, und Runa ließ keinen Augenblick ungenutzt, um der Welt und Gisla und sich selbst ihre Tatkraft und Entschlossenheit zu beweisen.
Neuer Schnee fiel, und diesmal so viel, dass aus der weißen Decke kein Grasbüschel mehr herausragte. Trotz des gefrorenen Bodens schaufelte Runa eine Grube, legte gesalzenes Fleisch und Fisch hinein und bedeckte alles erst mit frischem Schnee, dann mit Holz. Der Schnee, so erklärte sie Gisla, würde sich zu Eis wandeln und das Eis verhindern, dass das Fleisch schlecht wurde.
Das Meer war so stürmisch, dass sie nicht mehr wagte, mit dem Boot hinauszufahren, aber sie hatte in der Nähe einen kleinen See entdeckte, und dass er gefroren war, war für sie kein Hindernis, Fische zu fangen: Mit der Hacke schlug sie Löcher in das Eis, ließ eine Schnur mit dem Angelhaken hindurch und zog - flach auf dem Boden liegend, auf dass das Eis nicht unter ihr brach - die Fische heraus.
Tag für Tag wurde es kälter. Gisla verbrachte die Zeit jetzt am liebsten vor dem Feuer, doch während die Welt immer tiefer schlief, konnte Runa ihre Unrast nicht abschütteln. Noch mehr wollte sie tun, noch mehr Entschlossenheit beweisen! Erneut erwachte der Gedanke, nach Norvegur heimzukehren, und mündete in dem Entschluss, ein Schiff zu bauen.
Darüber hatte Runa einst, in jenem Winter ehe sich ihr Weg mit dem Gislas kreuzte, schon einmal nachgedacht, und was ihr damals noch unmöglich erschienen war, wurde jetzt greifbarer. Gewiss, es zu wollen hieß nicht auch, es zu können. Doch kraft besagten Wollens war sie aus der Hand so vieler Feinde entwischt und nun gestählt, tatkräftig und erfindungsreich genug, die ferne Heimat ohne fremde Hilfe zu erreichen.
Noch entstand dieses Schiff nur in Gedanken, nicht unter ihren Händen. Noch machte sie nur Pläne, aber setzte sie nicht um. Während sie jedoch Nadelbäume schlug und mit diesem Holz und den Metallbeschlägen alter Bottiche neue fertigte, während sie Becher und Teller schnitzte, Nadeln, einen neuen Messergriff und sogar einen Kamm aus den Knochen eines erjagten Tieres, reifte die Zuversicht, dass sie auch aus dem Nichts ein Schiff bauen konnte.
Mit Gisla sprach Runa nicht darüber. Sie sah, dass ihr das neue Leben gut bekam. Sie kämmte sich mit dem geschnitzten Kamm und konnte ungemein geschickt mit der Nadel umgehen. Sie nähte die Felle der erlegten Tiere aneinander, sodass sie warme Umhänge hatten, um sich vor der Kälte zu schützen. Sie flickte ihre Kleidung und Runas und half dieser, wo sie eben konnte, aber Runa merkte, dass sie Gisla immer noch nicht sonderlich viel zumuten durfte.
Eines Tages
Weitere Kostenlose Bücher