Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)
Griff.
»Ich werde dich töten«, zischte er. »Dein Volk hat all das Unheil über mich gebracht.«
Runa wich zurück. Sie wollte nichts davon hören - und er offenbar nichts weiter erklären.
Einige Tage später suchte ihn jedoch ein neuer Traum heim, und diesmal war sein Gesicht nicht schmerzvoll verzerrt, sondern voller Sehnsucht. Kein Hass, keine Ohnmacht standen in seinen Zügen, nur Trauer. Wieder murmelte er etwas im Schlaf, und diesmal verstand sie seine Worte, wenngleich sie wirr waren.
Von seiner Geliebten war die Rede ... zu Boden gestreckt ... entweiht durch den Schmutz der Feinde. Taurin wurde von Schluchzern geschüttelt.
»Pferde kommen auf uns zu ... Ja, ... gefährliche Reiter ...« Blitzschnell schienen Bilder an ihm vorbeizurasen, seine Worte kamen ihnen kaum hinterher. »... Tod, Tod, überall Tod ... Die Flotte Siegfrieds ... sie naht ... es ist November ... die Belagerung beginnt ... niemand kommt zu Hilfe ... niemand ... niemand ...«
Seine Stimme war so trostlos - und schwerer zu ertragen als sein Hass. Wieder trat sie zu ihm und berührte ihn, um ihn zu wecken, wieder schreckte er aus dem Schlaf hoch und starrte sie mit glasigen Augen an. Nur Verzweiflung war da dieses Mal, zu groß, zu absolut, um sich gegen ihre Hände zu wehren.
Runa hielt seinen Kopf, während sie seine Worte zu deuten versuchte.
»Deine Geliebte ... deine Frau ... ist sie tot?«, fragte sie.
Er starrte sie an. »Meine Frau?«, fragte er verständnislos, und menschlich wie nie zuvor klang seine Stimme. »Du denkst, ich leide wegen einer Frau?«
»Wer ist sie denn dann - deine Geliebte?«, fragte Runa. »Was wurde zerstört? Wer fiel den Händen der Nordmänner anheim?«
»Es ist keine Frau ... es ist ...« Er machte eine Pause, dann sprach er mit ehrfürchtiger Stimme, als gäbe er die Worte eines anderen wieder: »Dort liegst du, inmitten der Seine, mitten im reichen Land der Franken und rufst: Ich bin eine Stadt über allen, und wie eine Königin überstrahle ich alle mit meinem Glanz. Alle erkennen dich an der Erhabenheit deiner Gestalt. Eine Insel erfreut sich daran, dich zu tragen, ein Fluss umarmt dich, seine Arme liebkosen deine Mauern.«
Sie ließ ihn los, nicht von seinen Worten befremdet, sondern, weil er sie ruhig sagte - als wären sie zwei, die miteinander reden könnten, ohne von den Dämonen der Vergangenheit zerfleischt zu werden.
»Nein, ich rede von keiner Frau«, schloss er und senkte seinen Blick. »Ich rede von Lutetia ...«
Gegen Morgen schlief Runa endlich ein, und als sie erwachte, stand die Sonne bereits hoch am Himmelszelt. Taurin hockte in sich gekehrt da und wich ihrem Blick aus. Sie wusste nicht, ob er von Hass oder Verlegenheit erfüllt war, und wollte es auch nicht ergründen. Gislas Schlafstatt war leer, und sie trat nach draußen, um nach ihr zu suchen.
Frische Luft kühlte rasch ihr vom Schlaf erhitztes und geschwollenes Gesicht. Sie nahm einige tiefe Atemzüge und fühlte ihre Brust von einem Druck befreit, von dem sie nicht recht sagen konnte, woher er rührte. Dann erst sah sie Gisla nicht weit von sich stehen. Sie wirkte seltsam bleich.
Runa trat zu ihr. »Wer oder was ist Lutetia?«, fragte sie.
Eine Weile starrte Gisla sie nur an, verwirrt, weil sie das wissen wollte. Dann erklärte sie bereitwillig: »Das ist der Name, den die Römer Paris gegeben haben.«
»Und was ist Paris?«
»Paris ist eine große Stadt. Eine sehr große Stadt. Sie zählt zwanzigmal tausend Einwohner.«
»Und wo liegt sie?«, fragte Runa.
Gisla zuckte sie Schultern. »Ich weiß es nicht genau. Ich weiß nur, dass ein großer Fluss an Paris vorbeifließt, die Seine, und dass viele Straßen dorthin führen. Man kommt durch Paris, wenn man Richtung Norden nach Soissons, Laon, Beauvais oder Reims geht. Wenn man Richtung Osten nach Troyes, Auxerre und Sens reist. Und wenn man die Straße Richtung Süden nach Orleans, Blois oder Bourges nimmt.«
Während sie sprach, schienen Erinnerungen in Gisla wach zu werden. Auch wenn sie die Städte, von denen sie sprach, wohl nie selbst gesehen hatte - sie waren doch Teil einer vertrauten Welt.
»Ist Paris von den Nordmännern zerstört worden?«, fragte Runa.
Gisla schien noch bleicher zu werden. Ihr schwindelte, und sie stützte sich rasch gegen die Hauswand, um nicht zu fallen. Erst jetzt erkannte Runa, dass sie abgemagert war. Zart war sie immer gewesen, nun stachen die Wangenknochen gelblich durch die fahle Haut.
»Lange vor meiner Geburt ist
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