Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)
Paris belagert worden«, antwortete sie leise, »es dauerte monatelang, und es war schrecklich, heißt es. Mein Vater war noch nicht König, doch der, der herrschte, hieß Karl wie er. Der Dicke nannte man ihn. Und man sagte ihm nach, dass er nicht nur dick, sondern verrückt wäre.«
Gisla fröstelte, und Runa glaubte zu wissen, was sie dachte. Verrückt wie Thure ...
»Und haben die Nordmänner die Stadt schließlich erobert?«
Gisla schüttelte den Kopf. »Die Bewohner haben erbittert Widerstand geleistet und die Stadt gehalten. Vor allem der Bischof und der Graf von Paris, Odo, der darum später König wurde. Und auch der Abt von Saint-Germain-des-Pres. Das ist ein sehr großes, sehr mächtiges Kloster. Die Nordmänner legten es in Schutt und Asche, die Stadt selbst jedoch blieb von ihnen verschont. Warum fragst du?«
»Sie haben die Stadt also nicht bekommen«, stellte Runa fest. »Aber im Laufe der Belagerung vieles zerstört.«
Gisla zuckte wieder die Schultern. »Begga hat mir furchtbare Geschichten darüber erzählt, obwohl meine Mutter nicht wollte, dass ich davon höre ... Brücken brannten, Mauern wurden beschossen, Schlachten gekämpft. So viele starben an Seuchen oder an Hunger - oder unter Pfeilen und Schwertern.«
Ein Zittern überkam Gisla, und Runa dachte erst, dass der Gedanke an die geknechtete Stadt sie so erschütterte. Doch dann erkannte sie, dass weniger Beggas Geschichten sie quälten, sondern Übelkeit. Ihr bleiches Gesicht wurde grünlich, sie klammerte sich noch fester an die Hauswand und beugte sich abrupt vor, um sich zu übergeben. Es kam nicht viel aus ihrem Mund, der Magen war noch leer zu dieser Zeit. Nur zäher gelblicher Schleim troff auf den Boden.
Runa sprang zurück, um nicht beschmutzt zu werden. Plötzlich war es nicht mehr wichtig, was Taurin träumte, welche Geliebte er betrauerte und was die Menschen von Paris ... Lutetia zu erleiden gehabt hatten.
»Sag, dass es nicht stimmt!«, rief sie schrill.
Gisla starrte betroffen auf das Erbrochene. Kalter Schweiß stand auf ihrem bleichen Gesicht. Sie wischte sich die Stirn ab, den Mund. Ratlos starrte sie Runa an.
»Sag, dass es nicht stimmt!«, wiederholte diese, diesmal heiser.
Gisla sagte nichts - da sprach es Runa selbst aus. »Du bist nicht mehr allein«, stellte sie fest.
Eine neue Woge der Übelkeit schien Gisla zu überkommen, sie verkrampfte sich, ging in die Hocke, würgte wieder. Diesmal kam nicht mal mehr Schleim, nur noch Speichel. Die Haare fielen Gisla ins Gesicht und blieben auf der Stirn kleben.
»Was heißt das?«, fragte sie.
»So sagen es die Frauen meines Volkes ... wenn sie ... wenn sie ...«, Runa konnte es kaum aussprechen, »... wenn sie ein Kind erwarten.«
Es war nicht wahr, unmöglich konnte es wahr sein, Runa musste sich irren!
Gewiss, es wäre die gerechte Strafe für ihren Leichtsinn, Thure vertraut zu haben. Doch obwohl Gisla sich nun Morgen für Morgen übergab, blieb es undenkbar, dass etwas in ihrem Leib wuchs, wo dieser doch immer dürrer, immer ausgezehrter wurde, dass sie neues Leben spenden könnte, wo sie doch so kraftlos, so müde war. Jemand wie Thure konnte nicht mit jemandem wie ihr Leben zeugen - nicht, weil sie eine fränkische Prinzessin und er ein so übler Taugenichts aus dem Norden war, sondern weil sie sich in einer Sache so ähnlich waren: Sie glichen beide - sie ob der Auszehrung, er ob seiner Bösartigkeit - mehr einem verdorrten Baum als einem frischen Trieb, mehr Asche als Erde, mehr starrem Eis als klarem Wasser.
Es konnte nicht sein, sie wollte nicht daran denken, sie wollte es sich nicht vorstellen.
Aber obwohl sie kaum aß und sich ständig übergab, wuchsen ihr nach einigen Wochen üppige Brüste, wurde das schmale Becken breiter und das magere Gesicht voller. Bis dahin hatte auch Runa nie wieder ausgesprochen, dass Gisla ein Kind erwartete, doch nun konnte sie sich gegenüber den Veränderungen ihres Körpers nicht blind stellen.
Zorn brach aus ihr heraus, von dem Gisla bis jetzt nicht gewusst hatte, dass er in ihr brodelte.
»Warum warst du überhaupt allein mit ihm?«, schrie Runa. »Habe ich nicht gesagt, du sollst ihm fernbleiben? Warum musstest du ihm unbedingt zu essen bringen, warum ihn in unserer Nähe schlafen lassen?«
Sie begnügte sich nicht mit heftigen Worten, sondern packte Gisla an den Schultern und schüttelte sie.
»Warum bist du so böse auf mich?«, klagte Gisla. »Mir hat er doch Gewalt angetan, nicht dir! Ich trage die
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