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Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)

Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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denen sie nicht wusste, ob sie ihr oder Taurin oder ihnen beiden galten. Sie wusste nur: Diese Trauer hatte nichts Leises, Gemächliches, Halbherziges an sich. Sie schlich sich nicht an, sondern sie raste wie eine spitze, tödliche Waffe auf sie zu, um sich in ihr Fleisch zu graben, tief und schmerzlich.
    Als Runa nach Ewigkeiten die Tränen wegwischte, war sie verwundert, dass an ihren Händen kein Blut haftete. Verwirrt stellte sie fest, dass die Tränen sie beruhigten und das Zittern nachließ. Sie schämte sich ihrer nicht. Sie dachte an die Geschichte vom schönen Baldur, der durch Lokis gemeine List getötet worden war, und den die Göttin Hel einzig freizugeben versprach, wenn alle Kreaturen um ihn weinten. Wie konnten Tränen ein Zeichen von Schwäche und Versagen sein, wenn sie so machtvoll waren, einen guten, schönen Gott aus dem Reich des Todes zurückzuholen?
    Da Loki als Einziger nicht geweint hatte, war Baldur nicht wieder lebendig geworden. Aber sie war sich sicher, dass sie und Taurin ins Reich der Lebenden zurückgekehrt waren.
    Gisla wusste nicht, wie Runa Taurin dazu gebracht hatte, sich zu beruhigen, aber als sie abends zurück in die Hütte kehrte, saß er reglos auf seinem Platz und schwieg. Sie war am Strand gewesen, jenem Ort, den sie in den letzten Wochen immer gemieden hatte, dem Ort, an dem Thure sich an ihr vergangen hatte. Doch an diesem Tag zählte nur, dass der Strand menschenleer war. Es gab nur sie. Oder nein - sie und das Kind. Hoffnung erwachte in ihr. Vielleicht war ein Mann, verrückt wie Thure, nicht fähig, ein echtes Kind zu zeugen, vielleicht war es nur eine List - seine oder vielmehr die ihres Körpers - ihr vorzugaukeln, sie trüge eines unter ihrem Herzen. Vielleicht war das Kind nichts weiter als ein Windhauch, der in die Weite fuhr und die Wellen peitschte. Aber je länger sie dastand und auf das Meer starrte, gleichmütig, nicht wild und brodelnd, von Gesetzen kündend, die älter als die Menschen waren und wonach auf das Werden das Vergehen folgte, desto deutlicher wurde ihr, dass sie sich selbst belog.
    Auch Runa schwieg. Sie wich Gislas Blick aus. Diese konnte nicht ergründen, was es war, das ihr an der Gefährtin fremd schien.
    Verhieß das Schweigen Frieden? Die Pflichten des Alltags und der Rhythmus, den diese den Menschen auferlegten, hielten allen Ausbrüchen stand. Am nächsten Tag jedoch begann das Schweigen zur Last zu werden.
    Runas Gebaren erschien Gisla absonderlich. Sie sah Taurin nicht in die Augen, aber sie suchte seine Nähe. Wenn sie ihm das Essen hinstellte, tat sie es nicht schnell wie sonst, sondern blieb eine Weile bei ihm hocken, als warte sie auf etwas. Sie brachte ihm öfter frisches Wasser als früher und sah zu, wenn er sich wusch. Sie nähte ihm Kleidung, obwohl dies bisher Gislas Aufgabe gewesen war.
    Mit jedem Tag wuchs Gislas Verwirrung. Sie versuchte sich das sonderbare Verhalten damit zu erklären, dass Runa nicht mehr am Schiff baute und sich irgendwie die Zeit vertreiben musste, aber das half nicht zu verstehen, warum auch Taurin Runa so oft anstarrte - nicht hasserfüllt wie bisher, sondern brennend, als wären seine Augen glosende Kohlestücke.
    Gisla bekam Angst. Schwor Taurin der Rache ab, oder wurde auch er wahnsinnig wie Thure? Würde er eines Tages in Gelächter ausbrechen, so schrill und quälend wie das ihres Peinigers? Doch die Zeit verging, und Taurin lachte nicht.
    Wenn sie sein Weinen in den Nächten hörte, zog sich Gisla das Fell über den Kopf und wälzte sich unruhig hin und her, bis sie eine Stellung gefunden hatte, um trotz des wachsenden Leibes und der immer größer werdenden Brüste ohne Schmerzen liegen zu können. Und immer wieder fragte sie sich, warum Runa Taurin nicht getötet hatte.
    Ob auch Runa sich manchmal diese Frage stellte, wusste Gisla nicht - nur, dass diese mit der Zeit immer verbissener und angespannter schien und ihre Kräfte auf gar sonderbare Ziele richtete. Es war ihr nie wichtig gewesen, ob sie befleckt durch die Welt gingen oder sauber, doch jetzt erwachte in ihr plötzlich Ärger, wenn sie auf die Tunika blickte, die aus dem neuen Stoff gemacht worden war, und feststellte, dass sie von Fettspritzern und Erdflecken übersät war.
    »Man muss sie sauber bekommen können!«, rief sie zornig.
    Gisla blickte sie verständnislos an.
    »Es reicht nicht, sie ins Wasser zu tauchen«, rief Runa. »Davon allein wird sie nicht rein!«
    Was Runa sagte, stimmte ohne Zweifel, aber bis jetzt hatte sie

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