Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)
Lutetia fiel jene Stadt schon nach kurzer Zeit in die Hände der Heiden. Er sah zu, wie Männer getötet, wie Häuser in Flammen gesetzt und Frauen geschändet wurden, er schmeckte wieder Todesangst, Ohnmacht und Verzweiflung - aber diesmal waren es nicht mehr die eigenen Gefühle, sondern die von Fremden.
»In Bayeux lernte ich Popa kennen, die Tochter des Grafen, die inmitten von Kampf und Feuer ihre Haare kämmte, ihr schönstes Kleid anzog und zu lächeln versuchte, als sie sich vor Rollo niederwarf. Das Lächeln missglückte, aber ihre Haut war pfirsichzart, ihre Brüste voll und üppig, ihre Lippen rot und feucht, und Rollo gefiel sie auch ohne Lächeln.« Taurin hob den Blick. »Ich wiederum gefiel Popa, weil ich noch weniger lächeln konnte als sie, aber dafür in der Sprache ihrer Kindheit mit ihr redete. Sie lernte das Nordische wie ich, doch im Herzen blieb sie eine Fränkin.«
Sein Atem ging immer noch schwer, aber der Druck in seiner Brust war nicht länger unerträglich. Jetzt sah Taurin Runa an.
»Ich lernte kein Griechisch mehr«, fuhr er fort. »Ich memorierte keine Psalmen mehr. Ich lernte, mich zu verstellen, mich anzupassen und vorzugeben, dass ich meine Vergangenheit vergessen hatte.«
Am Anfang hatte er nur für seine Feinde übersetzt. Dann war er noch größer und kräftiger geworden und unterwarf sich Rollo, wie Popa sich ihm unterworfen hatte. Popa trug Rollo an, seine Konkubine zu werden - Taurin hingegen trug Rollo an, für ihn zu kämpfen. Und Rollo sah ihnen beiden in die Augen und erkannte die Wahrheit nicht. Er hielt Popa für eine üppige, schöne Frau und war blind dafür, dass sie zerstört war. Und er hielt Taurin für einen tapferen jungen Mann und und war blind dafür, dass er voller Hass war.
»Ich lernte kein Griechisch mehr«, wiederholte er. »Ich memorierte keine Psalmen mehr, ich lernte zu kämpfen. Zuerst war ich Mitglied von Rollos Leibgarde, dann führte ich die Leibgarde von Popa an. Sie hat mir oft die Freiheit versprochen, aber Freiheit war nicht das, was ich wollte.«
Er schwieg erschöpft. Er vermeinte, sein Leben noch einmal gelebt zu haben mit all seinen Anstrengungen und Entbehrungen und Enttäuschungen, und dieses Leben schien plötzlich so lange gewährt zu haben wie das eines Greises. Er war zu müde, um noch zu reden - nur weinen konnte er, und er weinte lange und bitterlich.
Am Ende begnügte sich Runa nicht damit, über sein Gesicht zu streicheln und seine Tränen zu trocken. Sie umarmte ihn, zog seinen Kopf auf ihre Brust, und die Brust war nicht weich und üppig wie die Popas, sondern klein und fest. Er hatte dennoch seit langem nicht mehr so weich gelegen. Er ließ sie gewähren.
Als seine Tränen versiegten, löste er seinen Kopf von ihrer Brust und wandte sich ab - so gut es trotz seiner Fesseln ging. Er war beschämt.
Wie erbärmlich, vor ihr geweint zu haben! Wie erbärmlich, ihre Umarmung gesucht zu haben! Wie erbärmlich, so viel preisgegeben zu haben!
Doch als er wieder hochblickte, sie ansah, trug sie nicht das Antlitz einer Feindin, sondern das Antlitz der Frau, mit der er nun über Monate unter einem Dach lebte, die ihm Essen gab und frische Kleidung, die ihm Wasser brachte, damit er sich waschen konnte, und die ihn losband, damit er seine Notdurft verrichten konnte. Vor allem war sie die Frau, an deren Brust er getrauert hatte.
»Wenn du mir dein Wort gibst, uns nicht zu töten - dann lasse ich dich gehen«, sagte sie.
Sein Zorn verrauchte. Seine Scham auch. Nur die Erschöpfung blieb.
»Du darfst mir nicht trauen«, sagte er leise. »Du bist eine Heidin. Wenn ich dich belügen würde, wäre es nicht einmal eine Sünde.«
»Dann belüg mich nicht. Sag mir die Wahrheit!«
Er wartete, dachte nach, sein Geist war so leer, die Tränen hatten jeden nüchternen Gedanken weggespült. Runa erhob sich, weil er immer noch schwieg, und dann war der Augenblick verstrichen, um zu versprechen, sie nicht zu töten.
Runa war erschöpft, als sie sich abwandte. Es war eine andere Erschöpfung als nach einem Kampf, einer Jagd, einer kalten Nacht oder zu langem Hungern. Zu viel ihrer Lebenskraft war durch ihre Adern gepeitscht, heftiger, als ein Mensch es ertragen konnte. Solange sie in Taurins verwundete Augen geblickt hatte, hatte sie seinen Kummer ertragen, doch kaum draußen angekommen gab sie dem Beben, das ihren Körper erfasst hatte, nach. Sie ging in die Hocke, vergrub den Kopf zwischen den Knien. Tränen schossen ihr in die Augen, von
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