Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)
Mut zusprechen und Wasser holen, um die verschwitzte Stirn zu trocknen. Aber das alles genügte nicht, und das Kind kam nicht so selbstverständlich zur Welt wie der Morgen nach einer Nacht und der Sommer nach dem Winter.
Dass Gisla Schmerzen hatte, war wohl unvermeidbar - was nahm auf dieser Welt seinen Lauf, ohne Schmerzen zu bereiten? Doch zu den Schmerzen kam Blut, und irgendetwas sagte ihr, dass es viel mehr war, als es sein sollte. Am schlimmsten war, dass Gisla schließlich so geschwächt war, dass sie nicht mehr schreien konnte, sondern nur mehr wimmern.
Immer noch versuchte sie, beruhigend auf sie einzureden, magische Beschwörungen zu murmeln, die in den Tiefen ihres Gedächtnisses vergraben waren, und Lieder ihrer Großmutter zu singen, obwohl ihre Stimme nicht dafür taugte. Aber ihr Herzschlag ging immer unruhiger, ihre Kehle wurde enger, und schließlich fühlte sie sich wie an jenem Tag, da sie Gisla verletzt aus dem Fluss gezogen hatte und das Leben unter ihren Händen geschwunden schien: hilflos und ohnmächtig.
Einmal ließ sie Gisla los, ging unruhig im Kreis umher. Als sie ihren Kopf hob, traf ihr Blick den Taurins. Gleichgültig war seine Miene, doch vielleicht diente die vermeintliche Kälte nur dazu, Ekel zu verbergen - und Unbehagen.
Runa blieb stehen. »Was soll ich tun?«, rief sie verzweifelt und schämte sich nicht, ihre Schwäche einzugestehen.
»Ich kann beten, schreiben und kämpfen«, murmelte Taurin, »aber einem Kind auf die Welt helfen ist Frauensache.«
Als ob Frauen es im Blut hätten! Als ob ihnen die Gabe angeboren wäre, solch ein Ungeheuer, wie es in Gislas Leib tobte, zu beschwichtigen!
Dieses schien ihn nicht verlassen zu wollen, sondern ihn vielmehr zu zerreißen.
Sie trat zurück an das Lager und sah, dass mit jeder Wehe neues Blut kam. Und inmitten einer Woge neuen Bluts ragte plötzlich eine Kinderhand aus Gislas Leib. Sie war zu einer winzig kleinen Faust geballt und bewies zwar, dass in Gislas Leib ein Menschenkind hockte, kein Ungeheuer - aber dass sie zuerst kam, war falsch, grundfalsch. Runa wusste nicht viel über Geburten, aber dies schon: dass der Kopf als Erstes nach draußen drängen sollte.
Sie starrte auf die winzige Hand. Sollte sie daran ziehen oder sie zurück in den Leib schieben? Sollte sie überhaupt etwas tun oder besser abwarten? Würde ihr Zögern Gisla und das Kind das Leben kosten - oder es retten, weil die Natur eine bessere Hebamme war als sie?
Panik befiel sie, größere, als wenn sie um ihr eigenes Leben gefürchtet hätte. Schließlich schüttelte sie die Schreckensstarre ab, hockte sich zwischen Gislas Beine und drückte die winzige Hand. Warm war sie. Und glitschig wegen des vielen Bluts. Gislas Leib hingegen schien wie aus Wachs zu sein - eine Berührung würde genügen, auf dass er schmolz, noch kleiner, noch schwächer wurde und schließlich dahinschwand. Das Wimmern erstarb.
»Halt dich irgendwo fest! Du musst dagegendrücken!«, schrie Runa.
Gisla hörte sie nicht mehr. Ihre Augen waren geschlossen, ihre Glieder schlaff. Sie konnte Runa nicht helfen, konnte ihr die Entscheidung nicht abnehmen, ob sie nicht doch an der Hand ziehen sollte. Wenn sie es täte, ging ihr auf, bräuchte sie jemanden, der Gisla festhielt.
Sie fuhr mit blutverschmierten Händen und schweißnassem Gesicht herum. Immer noch war Taurins Blick auf sie gerichtet, nicht länger kalt, sondern verwirrt.
Gisla hatte jenen schmalen Pfad zwischen Leben und Tod betreten, als die Geburt begann, Runa war ihr gefolgt, als sie ihr beistand, und auch Taurin machte einen Schritt auf diesen Pfad zu, nicht weil er es wollte, sondern weil er in dieser Hütte gefangen war. Und nun galt es, jeden Ballast abzustreifen, um nicht zu fallen - falschen Stolz und Trotz, aber auch Verachtung und Schmerz, galt es überdies, sich jener Macht hinzugeben, die plötzlich im Raum wirkte, die stürmischer und beißender als der salzige Meerwind sämtliche Gefühle fortwehte, und die verlangte, dass alle Kräfte dem nächsten Schritt auf diesem schmalen Grat geweiht würden.
Runa stand auf. Sie merkte kaum, wie sie die Distanz überwand, dann hatte sie Taurin schon erreicht.
»Wirst du mir helfen, das Kind auf die Welt zu bringen?«, fragte sie.
Er sagte nichts, aber sie ahnte, was ihm durch den Kopf ging. Dass er es gerne versprechen wollte, aber nicht konnte. Dass der gefesselte Taurin womöglich ein anderer war als der befreite, und der eine über den anderen keine Gewalt
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