Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)
einem anderen beugen noch jemandes Fuß küssen.« Bruder Hilarius schüttelte noch heftiger den Kopf. »Welch eine Schande!«, rief er wieder.
»Und? Ist der Lehnseid nun ungültig?«, fragte Aegidia gebannt.
»Nein«, rief Bruder Hilarius mürrisch, »der Bischof von Rouen hat sich an Rollo gewandt und ihn angefleht, dem Ritual Folge zu leisten und gegen all seine Überzeugung den Fuß des Königs doch zu küssen - und das hat Rollo prompt getan. Allerdings hat er sich nicht zum Fuß gebeugt, sondern den Fuß des Königs vielmehr zu seinen Lippen hochgezerrt, und das so heftig, dass der König auf den Rücken fiel. Eine Unhöflichkeit sondergleichen - die Rollos Krieger noch dazu keineswegs zutiefst beschämte, sondern zum Lachen brachte!«
Gisla versuchte, sich den Vater auf dem Rücken liegend vorzustellen. Sie kannte ihn nur mit hängenden Schultern - liegend nicht.
»Ist der Lehnseid nun ungültig oder nicht?«, rief Aegidia wieder, diesmal nicht hoffnungsfroh, eher kreischend.
Bruder Hilarius hörte auf, den Kopf zu schütteln. Der König habe Rollo dieses entwürdigende Verhalten verziehen, erklärte er schmallippig, und ihm überdies versprochen, seine Grafschaft fortan zu schützen, zumal Rollo nach seiner Taufe nicht nur sein Schwiegersohn, sondern auch sein Bruder in Christus sei.
»Der Bischof von Rouen«, schloss er, »war erleichtert und gab sich danach so beseelt, als hätte sich nicht nur Rollo bekehrt, sondern alle nordischen Länder. ›Es ist, als hätte die Erde ihr Alter abgeschüttelt, um sich nun überall in das weiße Gewand der Kirche zu hüllen‹, hat er laut verkündet.«
Die letzten Worte gingen in einem Grummeln unter. Als es verstummte, erhob sich Hilarius und kletterte wieder aus dem Wagen - nicht minder schwerfällig, als er zuvor eingestiegen war.
»Wohin geht Ihr?«, rief Gisla ihm nach.
»Ihr befindet Euch nun in der Obhut des Bischofs von Rouen und somit nicht länger in der Gewalt des Königs. Der Bischof wiederum hat eigene Mönche; sollen diese doch Eure Reise begleiten. Nichts bringt mich in das Land, in dem ein Heide - und ja, noch ist er es! - einen König auf den Rücken fallen lässt.«
Er schlingerte, drohte das Gleichgewicht zu verlieren und selbst zu fallen. Doch dann landete er heil und mit den Füßen voran auf dem Gras. Der Himmel über ihnen war immer noch farblos und weit. Wenig später setzte sich der Wagen in Bewegung.
Die beiden jungen Frauen waren wieder ungestört, doch nachdem der Wagen Fahrt aufgenommen hatte, war es ungleich schwerer, die Kleider zu wechseln. Gisla wurde hin- und hergeworfen, als sie an der Brosche zog, mit der sie ihre Palla geschlossen hatte. Sie entglitt ihren Händen, die Palla rutschte vom Rücken, auch das Riechfläschchen, das am Gürtel hing, fiel auf den Boden. Aegidia hielt die Balance etwas besser und zögerte nun nicht länger, erst aus ihrem Oberkleid, dann aus ihrer Tunika zu schlüpfen. Je mehr nackte Haut man von ihr sah, desto schneller sprach sie. Es war erbärmlich kalt.
»Rollo ist kein schlechter Mensch«, begann sie gehetzt. »Nicht nur, weil er sich jetzt taufen lässt. Hast du gehört, was er in Chartres tat?«
Gisla hatte es nicht gehört.
»Er hat die Stadt belagert«, sagte Aegidia. »Doch dann ist der Bischof auf die Befestigungsmauer gestiegen und hat vor den Augen der Feinde eine Reliquie geschwenkt - ein Stück von jenem Kleid, das die Jungfrau Maria in der Nacht trug, als sie Jesus, unseren Erlöser, gebar. Rollo sah es und befahl den Rückzug.«
Gisla fiel wieder ein, dass sie doch von Chartres gehört hatte und dass Rollo dort gescheitert war. Von einem freiwilligen Rückzug hatte sie nichts vernommen, nur von einer bitteren Niederlage.
»Und bevor er seine Heimat verließ«, fuhr Aegidia rasch fort, »ist Rollo im Traum ein Eremit erschienen und hat ihm prophezeit, dass er Christ werden wird.«
Gisla fragte sich einmal mehr, ob Aegidia das von ihrer Mutter zugetragen worden war. Dieser hatte man in den letzten Wochen selbst viele Geschichten erzählt, um sie mit dem Gedanken zu versöhnen, ihr Kind dem Nordmann zu geben. Der sei zwar groß und wild, aber kein Unhold und seine Seele nicht verloren, warum sonst wären ihm im Traum immer wieder Heilige wie der erwähnte Eremit erschienen, um ihm Landgewinn und Taufe zu prophezeien.
Gisla versuchte sich vorzustellen, wie dieser riesige Mann die Taufe empfing, doch stattdessen kam ihr nur das Bild in den Sinn, wie Rollo ihres Vaters Fuß an
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