Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)
seine Lippen zog und dieser vor ihm auf dem Rücken lag.
»Wir müssen uns beeilen«, drängte sie.
Sie überreichte Aegidia ihre Ketten und den Gürtel und wollte sich eben daranmachen, den Schleier vom Kopf zu ziehen und die roten Bänder zu lösen, die die Zöpfe hielten, als der Wagen einen Ruck machte.
Aegidia verstummte vor Überraschung und zog sich hastig das Unterkleid über die nackten Schultern. Gisla sah, dass sich ihre Härchen aufgerichtet hatten - vor Kälte. Oder vor Angst?
Die Wagenräder knarrten, es ruckelte noch stärker, schließlich hielten sie an. Einmal mehr beugte sich Gisla aus der Luke. Jemand stand mitten auf der Straße. Sie konnte das Gesicht dieser Gestalt nicht erkennen, jedoch, dass sie einen bodenlangen Kittel trug. Offenbar war es eine Frau, der Schlichtheit ihrer Kleidung nach zu schließen eine Bäuerin - vielleicht eine aus dem Dorf, dessen Bewohner vor Rollo geflohen waren. Das erklärte jedoch nicht, warum sie den Wagen aufhielt.
Gisla zuckte zurück, als sich plötzlich das Gesicht eines der Krieger vor die Luke schob. Die Angst vor dem fremden Mann überwog jene, dass sie beim Kleiderwechsel ertappt wurden. Genau betrachtet war er nicht fremd - er begleitete den Brautzug schon seit Laon, aber ein Mann war er und mit dem gefurchten Gesicht, den riesigen Pranken und dem harten Blick fürchterlich anzusehen.
Ihm schien es nicht aufzufallen - weder dass sie Palla, Gürtel und Schmuck abgelegt hatte noch dass sie sich vor ihm ängstigte.
Ausdruckslos erklärte er, dass die Frau vor dem Wagen an Skrofeln erkrankt sei und die Hoffnung auf Genesung hege, wenn nur eine sie berühre, in deren Adern königliches Blut rinne.
Gisla biss sich auf die Lippen, um ihr Zittern zu unterdrücken. Sie wusste, dass ihrem Vater solche Wunderkräfte nachgesagt wurden und dass immer wieder Kranke seine Nähe suchten - doch sie hatte nie darüber nachgedacht, ob auch sie als seine Tochter ähnliche Gaben besaß. Sie glaubte nicht daran und war doch voller Mitleid für die Frau, umso mehr, als sie sah, wie zwei weitere Krieger auf sie zugetreten kamen und sie wegzerren wollten. Die Frau musste verzweifelt sein und folglich schon lange an der tückischen Krankheit leiden, denn sie wehrte sich heftig, und der Schrei aus ihrer Kehle klang kläglich.
»Nicht!«, rief Gisla. »Wartet!«
Sie rief die Worte entschieden, aber verharrte unschlüssig, sobald sie verklungen waren. Sollte sie den Wagen verlassen? Die Frau berühren? Oder würde es reichen, ihr durch die Luke die Hand entgegenzustrecken? Trotz ihres Mitleids überkam sie Ekel, wenn sie sich vorstellte, einen von Beulen und Eiter geschlagenen Leib anzufassen.
Die Entscheidung, das Gute oder das Angenehme zu tun, blieb ihr allerdings erspart. Oft hatte Hilarius behauptet, Rollo sei von der Hölle selbst ausgespuckt worden, doch erst jetzt, als plötzlich ohrenbetäubender Lärm losbrach, begriff Gisla, was Hölle überhaupt bedeutete.
Runa wusste nicht, wann sie misstrauisch geworden war - ob schon im Wald, als Thure ihr seinen Plan darlegte, später, als sie sich wie ausgemacht in Frauenkleidern vor den Wagen stellte, oder erst, als der Sturm losbrach - und sie erkannte, dass er sie belogen hatte.
Sie war entsetzt, überrascht aber war sie nicht: Thure hatte es also doch nicht auf den Brautschatz abgesehen, sondern auf die fränkische Prinzessin selbst. Vielleicht, weil diese Geisel mehr wert war als Gold und Silber, vielleicht aber auch, weil es die größere Gefahr und folglich das größere Vergnügen verhieß, sich ihrer zu bemächtigen. Ein Teil des Spaßes bestand gewiss darin, dass sie bei alldem ohnmächtig zuschauen und obendrein erkennen musste, warum er sie in seinen Plan einbezogen hatte: nicht einfach nur, um als vermeintliche Bäuerin den Zug aufzuhalten - auch einer seiner Krieger hätte den Kittel überziehen können, um ihn, sobald der Kampf losbrach, abzustreifen und zur Waffe zu greifen -, sondern obendrein, um sie zu zwingen, einmal mehr zu töten und ihres Vaters Hoffnung zu spotten, im Nordmännerland warteten Frieden und Wohlstand.
Thures ursprünglicher Plan sah dieses Töten eigentlich nicht vor: Demnach hätte es genügt, Gisla aus dem Wagen zu locken und möglichst lange ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Runa sollte die Prinzessin packen, sie nicht mehr loslassen und solcherart bewirken, dass sämtliche Krieger damit beschäftigt wären, die junge Maid vor ihr zu schützen, um lange genug vom
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