Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)
sie tun sollte, da war nur noch Panik.
Am Ende trieb diese Panik Gisla nicht zu Aegidia, sondern ins Freie, und wenn sie auch nicht Taurin in die Hände lief, so doch einem anderen. Wie aus dem Nichts ragte eine Gestalt vor ihr auf, griff nach ihr und hielt sie fest. Sie schrie jämmerlich auf und begann, wild um sich zu schlagen. Gewiss war es jemand, der es auf ihr Leben abgesehen hatte, gewiss ein weiterer Meuchelmörder, den Popa auf sie hetzte!
Eine Woge üblen Gestanks traf sie. Der Mann, der sie festhielt, war unbewaffnet, aber dreckig - und betrunken. Und er war nicht sehnig wie Taurin, sondern fett. Leider war er auch stark. Vergebens trat Gisla um sich; nach kurzer Zeit schon fühlte sie, wie ihre Kräfte schwanden.
»Hier bist du!«, stieß er lallend aus - auf Fränkisch, was ihn als Mitglied des bischöflichen Hofstaats auswies.
Ein sonderlich hohes Amt hatte er wohl dennoch nicht inne, so wie er stank. Seine Kleidung war nicht nur schmutzig, sondern auch ärmlich, der Gürtel ausgefranst, das Lederwams speckig, das Gesicht, das sich nun tief über sie beugte, aufgedunsen und rot.
Am Tag zuvor noch hätte Gisla sein Anblick zu Tode erschreckt, aber in dieser Nacht konnte nichts schlimmer sein, als in das Gesicht eines Menschen zu schauen, der sie töten wollte - das hatte dieser Mann offenbar nicht im Sinn.
»Den ganzen Tag suche ich nach dir«, nörgelte er.
Sie begriff nicht, was er meinte. Wusste auch er, dass sie Gisla war? Aber warum suchte er nach ihr?
»Lass mich los!«, flehte sie.
»Das würde dir so passen, du Luder! Aber ich habe schon viel zu oft ein Auge bei dir zugedrückt. Diesmal bekommst du deine Strafe, darauf kannst du wetten.«
Jedes Wort brachte ihr größere Gewissheit, was vor sich ging: Der Mann hielt sie nicht für Gisla, sondern für eine Dienstmagd, trug sie doch schließlich ein so ärmliches Kleid. Und mit dieser Dienstmagd hatte er noch eine Rechnung offen.
»Bist einfach aus der Küche geflohen!«, schimpfte er. »Aber ich werde dir schon noch einbläuen, dass man für jedes Stück Brot, das man isst, zu schuften hat.«
Gisla gefroren die Worte im Mund. Ihre Lage erschien ihr nicht nur als hoffnungslos, sondern als Gottes gerechte Strafe. Ihr, die alle Welt betrogen hatte, als sie mit Aegidia die Kleidung tauschte, würde man nun die Wahrheit nicht glauben.
Sie versuchte es gar nicht erst, sie zu bekennen. Sich von dem Betrunkenen einfach mitzerren ließ sie sich allerdings auch nicht. Ihre Verzweiflung war größer als ihre Furcht, sie begann wieder wild mit den Füßen um sich zu treten. Da rutschte ihr Fulrads Pelz von der Schulter, und der Mann hielt jäh inne. Erst jetzt schien er den wärmenden Umhang wahrzunehmen. Solch einen Pelz trug nur eine Prinzessin, keine Magd.
»Wie?«, schrie er, riss den Pelz an sich und hielt ihn prüfend hoch. »Du hast nicht nur versucht zu fliehen? Du hast auch noch einen Pelz gestohlen? Von wem?«
»Bitte, lass mich gehen!«
»Mach den Mund auf, Luder!«, brüllte er. »Und sag mir die Wahrheit!«
Gisla presste die Lippen aufeinander und hielt die Luft an. Aus dem und des Mannes strömte ein unerträglicher Gestank.
Er ließ sie los und holte aus, um sie zu schlagen. Gerade noch rechtzeitig duckte sie sich, damit sie seine Faust nicht im Gesicht traf. Stattdessen drosch er auf ihre Schulter ein, nicht minder schmerzhaft und so heftig, dass Gisla zu Boden ging.
»Wem hast du den Pelz gestohlen, du Miststück?«
Auch wenn sie gewollt hätte, hätte sie kein Wort herausgebracht. Gisla versteifte sich und hoffte, dass die Hölle, wenn sie sich schon aufgetan hatte, um diese Kreatur freizulassen, sie nun verschluckte. Kein Teufel, der dort auf sie lauerte, schien bedrohlicher als dieser Betrunkene.
»Na warte!«, schrie der. »Ich werde das schon aus dir herausbekommen!«
Sie wappnete sich gegen einen neuerlichen Schlag, doch anstatt die Hand zur Faust zu ballen, zerrte er sie hoch und riss sie mit sich. Gisla stolperte, versuchte auf die Beine zu kommen, schaffte es jedoch nicht. Er zog sie über den harten Boden, bis Schienbein und Knie aufgeschrammt waren, und schleifte sie dann an ihren Haaren in einen dunklen, niedrigen Gang, der in die Tiefe führte.
»Eine Nacht im Kerker wird dich zum Reden bringen«, spie er voller Genugtuung aus.
Seine Pranken versetzten ihr einen letzten Stoß. Sie wankte, umklammerte mit den Händen krampfhaft die Schultern, um sich an irgendetwas festzuhalten, und hob langsam, ganz
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