Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)
langsam ihren Kopf.
Es war finster, stockfinster. Hinter ihr fiel eine Tür ins Schloss, quietschte ein Riegel, dann war sie allein. Oder nein, doch nicht. Eine eisige Hand schien nach ihrem Herzen zu greifen, als sie ein Rascheln hörte, ein Seufzen, regelmäßige Atemzüge. Da war noch ein anderer in diesem Kerker gefangen.
Runa hatte sich nicht daran gestört, dass der Boden des Kerkers verdreckt und vor allem eiskalt war. Sie war Kälte gewohnt, und als sie sich zusammengeigelt hatte, war sie sofort eingeschlafen. Sie war jedoch auch gewohnt, beim leisesten Geräusch aufzuschrecken. Es war ein hoher Laut, der sie geweckt hatte. Ein Vogelschrei? Noch bevor sich ihre Augen ans matte Licht gewöhnen konnten, streckte Runa die Hände aus, befühlte den Boden unter sich. Kurz hoffte sie, Rinde oder Erde zu ertasten, nicht etwa faulendes Stroh und lehmigen Boden. Doch alsbald seufzte sie enttäuscht. Die Augen sahen im trüben Licht nur langsam klarer, die Erinnerungen kamen jedoch mit ganzer Wucht zurück.
Erinnerungen an Thure ... die fränkische Prinzessin ... den Kampf ... den Kerker ...
Sie wusste wieder, wo sie war, aber sie wusste noch nicht, was sie geweckt hatte. Das Geräusch verstummte, als sie sich aufrichtete, aber ertönte erneut, als sie still hocken blieb und sich nicht länger regte. Es war kein Vogelgeschrei, sondern ein Schluchzen, unterdrückt zwar, aber eindringlich genug, um zu erkennen, dass es verzweifelt klang. Runas Körper spannte sich an. Das Leid dieses fremden Wesens war für sie kein Grund, nicht auf der Hut vor ihm zu sein.
Ihre Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit, die Fackeln an den Wänden des Ganges vor dem Kerker ließen ein wenig Licht durch einen Spalt in der Tür hinein, und sie sah, dass das fremde Wesen nicht nur verzweifelt war, sondern überaus klein. Es war eine Frau, fast noch ein Mädchen, und anders als Runa hockte sie nicht auf dem Boden, sondern stand inmitten des Kerkers. Als Runa sich langsam erhob, riss das Schluchzen ab, und weit aufgerissene Augen starrten sie an. Die junge Frau hatte graues Haar - oder war es blond? Trag sie das matte Licht?
Blondes Haar ...
Eine Ahnung streifte Runa, aber sie ging ihr nicht nach, musterte ihr Gegenüber vielmehr eingehender, ehe sie ein Urteil fällte. Obwohl sie sich sichtlich nicht zu rühren wagte, konnte die junge Frau ein Zittern nicht unterdrücken. Kein Wunder, dass sie fror - sie trug nur ein Leinenkleid, keinen Wolfspelz wie sie. Unwillkürlich tastete Runa danach, vergewisserte sich, dass niemand ihr ihn im Schlaf gestohlen hatte, und befühlte auch ihr Amulett.
Dann trat sie langsam einen Schritt auf die andere zu - und stellte sie vor die quälende Entscheidung, was das größere Übel war: zurückzuweichen und sich an die kalte, verschmutzte Wand zu pressen oder die Nähe dieser Fremden zu ertragen.
Gebannt hielt Runa den Atem an. Sie öffnete den Mund, wollte etwas sagen, aber heraus kam nur ein Krächzen. Obwohl sie die letzten Tage in Gesellschaft von Menschen verbracht hatte, hatte sie sich noch nicht daran gewöhnt zu reden. Überdies wusste sie weder, was sie sagen sollte, noch, ob die Fremde es überhaupt verstehen würde. Ihr Kittelkleid, bodenlang, wies sie als Fränkin aus. Dergleichen trugen die Frauen ihres Volkes zwar auch, aber diesem hier fehlten die vertrauten Träger, die auf der Brust mit Broschen festgesteckt wurden.
Runa überlegte. Stammte die junge Frau vielleicht doch aus dem Norden und hatte nur ihre Tracht, nicht ihre Sprache abgelegt? In einem Land wie diesem, wo zwei Völker so dicht beisammenlebten, konnten die Grenzen nicht ganz so scharf gezogen sein.
Wieder machte sie den Mund auf, wieder kam zunächst kaum mehr heraus als ein Krächzen. Dann aber formten ihre Lippen die Frage: »Verstehst du mich?«
Die Fremde zuckte zusammen, als hätte sie ein giftiger Pfeil getroffen. Die Wände erregten nicht länger ihren Ekel. Sie machte einen Satz zurück und presste sich gegen das Gemäuer, nicht weit von der Tür, die den Kerker versperrte. Durch den Spalt im Holz drang gerade genug Licht, um zu erkennen, dass die junge Frau tatsächlich blond war und ihr Gesicht kalkweiß. Wieder streifte Runa der Gedanke, dass sie sie kannte, und diesmal kreiste er länger in ihrem Kopf ...
Die fränkische Prinzessin Gisla war genauso klein, genauso zart, genauso ängstlich wie die Gestalt, die sich da an die Wand presste.
Undenkbar andererseits, dass ausgerechnet die fränkische Prinzessin
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