Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)
nicht verständlich machen. Auch wenn sie die Worte langsam aussprach, blickte die Fränkin sie nur mit weit aufgerissenen, angsterfüllten Augen an. Irgendwann glänzten diese Augen feucht. Sie lehnte den Kopf an die Wand des Kerkers und weinte.
Runa ging eine Weile unruhig hin und her und versuchte an die Worte zu denken, die sie von Thure gelernt hatte. Der konnte ein wenig Fränkisch, doch der erste Satz, den er ihr beigebracht hatte, lautete: Ich bringe dich um.
Für Thure stand das Töten an oberster Stelle - weit weniger wichtig war zu erklären, wie man hieß, dass man hungrig war oder fror, dass man Hilfe benötigte. Runa fasste einen Entschluss. Um zu erreichen, was sie wollte, brauchte sie die Zustimmung der anderen nicht. Sie zerrte die junge Frau von der Wand weg, und prompt schrie diese aus Leibeskräften, als würde Runas Berührung wie Feuer brennen.
Der schrille Laut verfehlte seine Wirkung nicht. Auch ein herzloser, abgebrühter Wächter konnte ihn nur als den eines Menschen deuten, der um sein Leben bangte. Und auch wenn das Leben einer Frau nicht viel wert war, wenn man sie in diesen Kerker sperrte und sie der Kälte und Finsternis überließ, erregten diese Schreie offenbar sein Mitleid. Wenig später waren rumpelnde Schritte zu vernehmen.
Noch während sie näher kamen, fasste sich die Fremde wieder. Sie kaute auf den Lippen, dann stammelte sie einige unverständliche Worte. Inmitten der Flut fremder Silben vermeinte Runa zwei vertraute herauszuhören: den Namen Gisla.
Hieß so diese Frau? Und war es Zufall, dass sie den gleichen Namen trug wie die fränkische Prinzessin? Einer Prinzessin, der sie obendrein ähnlich sah?
Es blieb keine Zeit, dies zu ergründen. Der Riegel wurde zurückgeschoben, die Tür ging knarzend auf. Im letzten Augenblick sprang Runa in eine Ecke und duckte sich im Dunkeln, nicht länger von den Worten der Fränkin verwirrt, sondern dankbar, dass alles gekommen war, wie erhofft.
Der Leib des Wärters war so üppig, dass er den ganzen Türrahmen auszufüllen schien und sämtliches Licht, das von den Fackeln aus dem Gang kam, abschnitt. Gisla schrie erneut entsetzt auf, als der Mann auf sie zutorkelte. Bevor er auch nur einen Laut von sich geben konnte, sprang Runa ihn von hinten an. Ihr Messer hatte sie im Kampf verloren, aber ihr Amulett nicht. Einem Strick gleich schlang sie es um seinen Hals und zog die Schlinge mit ganzer Kraft zu.
Der wütende Protest verklang in einem gurgelnden Laut. Der Mann versuchte sie abzuschütteln, sein Leib war jedoch nur mächtig, weder stark noch gelenkig. Runa zog fester, gewillt, ihn zu erwürgen, aber bereits siegreich, noch ehe sie ihm sämtliche Luft zum Atmen raubte. Betrunken wie er war, musste er nicht erst sterben, um umzufallen wie ein Sack Getreide, und als sie von ihm abließ und sich über ihn beugte, nahm sie wahr, dass er noch keuchte, sich aber nicht länger rührte. Prüfend trat sie mit dem Bein gegen ihn, doch ein Klagelaut blieb aus und seine Augen geschlossen, selbst dann, als sie an seinem Gürtel nestelte und sein Messer an sich nahm. Eine brauchbare Waffe, und wieder eine solche zu besitzen, fühlte sich an, als wäre ihr ein abgehacktes Glied nachgewachsen.
Eine Weile starrte sie auf den bewusstlosen Wärter, dann gewahrte sie eine Berührung. Hastig fuhr sie herum, aber es war nur die Fremde, die sich voller Entsetzen an sie klammerte.
Runa erstarrte unter ihrem Griff.
Jetzt, da mehr Licht zur Tür hereinschien, erkannte sie die junge Frau endgültig wieder: Es war tatsächlich die fränkische Prinzessin Gisla. So wenig Runa daran noch zweifelte, so unerklärlich hingegen war, warum diese nicht sicher in einem weichen Bett schlief, sondern in diesen Kerker geworfen worden war. Und noch verstörender war die Frage, was sie nun mit ihr tun sollte.
Ehe Runa eine Entscheidung traf, wurde es im Kerker jäh wieder dunkel. Die Freiheit schien doch nicht so nah, wie Runa erhofft hatte.
Er griff nicht sofort an, sondern blieb abwartend in der Tür stehen. Der Mann war so groß wie die Männer ihres Vaters, aber nicht ganz so breit, die Hände sehnig wie deren Pranken, aber seine Finger schmaler und schlanker. Stark war er wohl in jedem Fall. Zwar hatte er sich kein bisschen bewegt, um es zu beweisen, doch Runa ahnte, dass er das Schwert führen konnte, das an seinem Gürtel hing. Er zog es nicht, stemmte lediglich die Arme in die Hüften und verzog den Mund zu einem schmalen Lächeln. Was er im trüben Licht
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