Tochter des Ratsherrn
Augustiner-Chorherren, die er immer zu besuchen pflegte, wenn er in der Nähe war. In ihrem Kloster wollte er seine rastlosen Gedanken ordnen, bevor er am nächsten Morgen weiterritt, doch die Nacht wurde lang. Er fand einfach keine Ruhe und wälzte sich auf seiner kargen Bettstatt hin und her. Immerzu holten ihn die jüngsten Ereignisse aus seinem allzu leichten Schlaf, sodass er irgendwann bloß noch mit offenen Augen dalag und auf das Morgengrauen wartete.
Niemals hätte Johann sich träumen lassen, dass ihn etwas Weltliches derart aus der Ruhe bringen konnte. Walthers Worte hatten das geschafft. So also fühlte es sich an, Vater zu sein. Er hatte tatsächlich einen Sohn! Viel zu viele Jahre hatte er nichts davon gewusst, und nun sollte die Mutter seines Kindes sterben. Diese Prüfung war die härteste, die Gott ihm jemals auferlegt hatte. Johann hatte berechtigte Angst davor, daran zu scheitern. Das erste Mal in seinem Leben als Domherr zweifelte er an seinem Glauben. Konnte es tatsächlich einen Gott geben, der so grausam zu ihm war? Johann wusste nicht, was er tun sollte. Er konnte sich niemandem anvertrauen, ohne Runa, Thymmo oder sich selbst in Gefahr zu bringen. Doch ohne Hilfe war Runa verloren.
Noch vor dem ersten Sonnenstrahl trieb es ihn aus dem Bett. Er nahm seine Halskette mit dem großen Kreuz daran ab und lehnte es an die Wand seiner nackten Zelle. Dann kniete er davor nieder und betete inbrünstiger denn je. Er betete das Paternoster, das Ave-Maria, alle Stundengebete, ja, er sagte sogar ganze Seiten der Bibel auf, doch es wollte ihm kein einziger eigener Gedanke über die Lippen dringen. Johann wusste nicht, worum genau er Gott bitten sollte. Was wollte er? Wünschte er sich, er hätte nie von der Existenz seines Sohnes erfahren, oder wünschte er sich, er könne ihn kennenlernen? Thymmo war die Ausgeburt seiner schwersten Sünde und somit ein Mensch, den er ein Leben lang meiden, wenn nicht gar verabscheuen sollte. Warum aber empfand er schon jetzt diese unbändige Liebe für ihn? Johann war ratlos, und so verließ er das Kloster schon früh, holte sein Pferd und ritt weiter gen Süden.
Je näher er Hamburg kam, desto stärker wurde seine innere Zerrissenheit. Er konnte fast körperlich spüren, wie die Weggabelung näher kam; und dann war sie plötzlich da.
Er zügelte sein Pferd und hielt inne. Unbewegt verweilte er einige Augenblicke. Aus einem kurzen Moment wurde eine ganze Weile, und aus einer Weile wurde eine Stunde. Irgendwann hatte Johann jedes Zeitgefühl verloren. Froh darüber, dass ihn niemand sah, stand er einfach nur da und starrte auf die beiden sich zweigenden Pfade.
Wie lächerlich: Er, der große Ratsnotar und Domherr von Hamburg, zitterte vor der Begegnung mit einem kleinen Jungen und konnte sich deshalb nicht entscheiden, ob er rechts oder links abbiegen sollte. Sein Pferd hatte schon vor einiger Zeit begonnen, ungeduldig mit dem Huf im Sand zu scharren und zu schnauben, als sich Johann endlich einen Ruck gab. Entschlossen stieß er dem Rappen die Fersen in die Seiten, worauf dieser lospreschte und im vollen Galopp den rechten Weg einschlug. Vielleicht war es die Angst, wieder umzudrehen, die ihn bis nach Eppendorf im Galopp reiten ließ, doch als er das Kirchspiel erreichte, waren er und sein Pferd nass vor Schweiß.
Mit klopfendem Herzen steuerte er den Hof der ehemaligen Ratsherrnfrau Hildegard von Horborg an. Als die Gebäude in Sichtweite kamen, schwang er sich aus dem Sattel und ging zu Fuß deneichengesäumten Wegentlang auf das ordentliche Wohnhaus zu.
»Herr«, ertönte es plötzlich neben ihm zwischen den Bäumen. Johann drehte sich herum und sah eine Magd, die eine kleine Schar schnatternder Gänse vor sich hertrieb. Sie knickste tief und fragte: »Was ist Euer Begehr?«
»Finde ich Domina Hildegard hier?«
»Gewiss, Herr. Bitte folgt mir.«
Die Magd führte ihn auf den Hof bis zu dem großzügigen Wohnhaus und bedeutete ihm, hier zu warten. »Ich werde jemanden schicken, der Euch das Pferd abnimmt, Herr«, erklärte sie und verschwand im Haus.
Nur wenig später erschien tatsächlich wie aus dem Nichts ein Junge, der ihm ungefragt die Zügel aus der Hand nahm und sein Pferd wegführte. Kopfschüttelnd schaute Johann dem Burschen nach. Irgendwie kam es ihm so vor, als würde man ihn hier bereits erwarten.
»Kommt doch herein, Ratsnotar«, ertönte da Hildegard von Horborgs Stimme, die Johann zur Tür blicken ließ.
»Domina Hildegard, wie erfreulich, Euch
Weitere Kostenlose Bücher