Tochter des Ratsherrn
Agnes zu ersetzen. Am liebsten hätte sie auf die Genesung des Mädchens gewartet, doch als sie gestern kaum mehr einen Krug Wein die Stiegen hinaufschleppen konnte, wusste sie, dass es Zeit wurde. Auch wenn es Mägde genug in Hamburg gab, war es nicht einfach, sich für eine von ihnen zu entscheiden. Schließlich lebte diese bestenfalls ein Leben lang in ihrem Haus, speiste an ihrem Tisch und kümmerte sich um ihre Kinder. Die Entscheidung musste wohl überlegt werden.
Den ganzen Tag schon saß Runa an einer ihrer geliebten Stickereien und grübelte darüber nach, wer ihr wohl eine gute Magd empfehlen könnte, als es plötzlich an der Tür zum Handarbeitsraum klopfte. »Wer da?«
»Ich bin’s«, antwortete eine dunkle Stimme, dann öffnete sich die Tür, und Godeke kam mit seinem strahlendsten Lächeln herein. »Ich grüße dich, liebe Schwester.«
»Godeke! Endlich bekomme auch ich dich mal zu Gesicht! Seitdem du aus Friesland zurückgekehrt bist, habe ich vergeblich auf deinen Besuch gewartet.« Runa war hocherfreut, ihren geliebten Bruder zu sehen. Innig schloss sie ihn in die Arme, während sie ein ums andere Mal beeindruckt von seiner Erscheinung war: groß und kräftig, mit dunklen Locken und weißen Zähnen. Seine Frau Oda konnte sich glücklich schätzen, dass sie ihn vor zwei Jahren zum Mann bekommen hatte.
»Komm, setz dich zu mir. Vater hat mir von dem Überfall erzählt. Wie geht es dir?«, erkundigte sich Runa etwas besorgt nach der Verletzung, die er sich während des Kampfes mit den Rittern zugezogen hatte.
»Es geht mir gut, sorge dich nicht um mich.«
»Das fällt mir schwer, schließlich bist du ja mein kleiner Bruder, aber ich will es versuchen«, neckte ihn Runa mit einem Blick auf seine verbundene Hand.
Godeke winkte ab. »Ach das, es ist fast nichts mehr zu sehen. Außerdem ist das nichts im Vergleich dazu, was noch hätte passieren können. Gott war bei mir, Runa. Am Tage des Überfalls ritt ich immerzu am Schluss der Reisegruppe. Nur kurz nachdem ich mich an die Spitze gesetzt hatte, schlugen die Ritter zu, und es erwischte den Mann, der an jener Stelle ritt, an der zuvor ich gewesen war.«
»O nein, das ist ja schrecklich. Hätten die Placker nur ein wenig früher zugeschlagen, hätte es dich getroffen! Diese furchtbaren Überfälle. Wann hört das endlich auf?« Runa bekreuzigte sich und umfasste Godekes gesunde Hand. Dann fiel ihr ein, weswegen er wohl eigentlich gekommen war. »Bruder, erzähle mir von deiner Reise. Warst du in Sandstedt, wie ich dich gebeten habe?«
»Ja, ich war dort. Und ich sage dir noch einmal, dass ich der Meinung bin, du handelst falsch, wenn du mir hinter Walthers Rücken solche Aufträge erteilst.«
Runa presste die Lippen zusammen und schluckte. Sie wusste, dass er recht hatte, und doch hoffte sie, er würde weitersprechen. Und er tat es.
»Es war nicht leicht, das Dorf ausfindig zu machen. Die Bauern in Friesland sind misstrauisch Fremden gegenüber, musst du wissen. Aber ich hatte Erfolg.«
Runa konnte nicht länger an sich halten. Aufgeregt fragte sie: »Und? Hast du Walthers Vormund von damals gefunden?«
»Auch das ist mir gelungen. Dennoch, liebe Schwester, es ist nicht alles erfreulich, was ich zu berichten habe.«
»Was meinst du damit?«, fragte Runa und schnappte erschrocken nach Luft.
Godeke zögerte kurz. Er kannte ihr Gemüt. Sie hatte ein starkes Wesen, doch ein weiches Herz. Während der ganzen Heimreise von Friesland hatte er überlegt, ob er ihr die Wahrheit erzählen sollte oder besser nicht. Doch jetzt entschied er sich dafür – noch mehr Lug und Trug mussten nicht sein. »Runa, in Sandstedt ist fast niemand mehr am Leben. Erst vor Kurzem haben die Ritter der Grafen von Oldenburg die Dörfer im Stedinger Land verwüstet. Es muss grauenhaft gewesen sein. Noch immer stehen überall die verbrannten Hütten; und mancherorts war kaum eine Menschenseele zu sehen. Die meisten der Bauern haben nichts zu essen und kaum Kleidung.«
Runa hatte die Hand vor den Mund geschlagen. »Großer Gott. Und … und was ist mit Walthers Familie?«
»Ich habe den Priester gefunden. Ihn und seine Kirche haben sie verschont. Doch nahezu alle Männer, Frauen und Kinder im Dorf sind tot. Geschändet, erschlagen oder erstochen von den Rittern. Und die wenigen, die verblieben sind, kämpfen ums Überleben.«
»O heilige Mutter Gottes. Das ist ja furchtbar.« Runa gönnte sich einen kurzen Moment, um tief durchzuatmen. Dann fragte sie: »Hast du dem
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