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Tochter des Ratsherrn

Tochter des Ratsherrn

Titel: Tochter des Ratsherrn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Tan
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seinen Vater zu Ansehen und Reichtum gekommen. Die Erkenntnis, dass auch er all das hätte haben können, wäre er damals nicht mit seiner Stiefmutter in den Wald gegangen, sondern Godeke nachgefolgt, vertiefte seinen Hass nur noch. Er musste sich eingestehen, dass die Entscheidung, die er vor über sechs Jahren getroffen hatte, falsch gewesen war. Zu stolz, um reumütig wie sein Bruder zu seinen Eltern zurückzukehren, hatte er sein Schicksal damals für immer besiegelt. Doch nun würde er sein Schicksal in die Hand nehmen und das Blatt wenden.
    Die Verkleidung als Frau hatte sich bereits als wirksame Waffe herausgestellt, und seit Jüngstem wusste er sogar einen mächtigen Verbündeten an seiner Seite.
    Als Vater Everard die Küche betrat, waren Johanna und Agnes so vertieft in ihre Arbeit, dass sie den Geistlichen zunächst gar nicht bemerkten.
    Bedächtigen Schrittes trat er näher an die Holzbank heran, auf der Freyja und Thymmo saßen und ihre Kringel aßen. Sie liebten dieses honigsüße Gebäck. Es kam selten vor, dass sie jeder einen eigenen Kringel bekamen, und so ließen sie sich auch von dem Erscheinen Vater Everards nicht stören.
    Gemächlich setzte er sich den Kindern gegenüber und betrachtete sie eingehend. Die Geschwister waren so unterschiedlich, dass man meinen konnte, sie wären nicht miteinander verwandt. Thymmo hatte offensichtlich das blonde Haar seines Vaters geerbt, doch seine Züge unterschieden sich deutlich von denen Walthers. Freyja hingegen war das dunkle Ebenbild ihrer Mutter: Sie hatte das gleiche Lächeln und die gleiche Nase wie Runa; und doch hatte es Gott wohl gefallen, ihr braunes Haar und diese großen bernsteinfarbenen Augen zu schenken. Wie so oft konnte Vater Everard auch in diesem Moment die Augen nicht von dem Mädchen nehmen. Ihr Antlitz hielt ihn auf eine seltsame, fast unangenehme Weise gefangen und ließ einen furchtbaren Gedanken in seinem Kopf reifen.
    »Vater Everard. Ich habe Euch gar nicht kommen hören«, riss es ihn plötzlich aus seinen Gedanken. »Was führt Euch …«
    »Schscht!« Einen Zeigefinger vor dem Mund, die andere Hand erhoben gebot er Agnes Einhalt. »Kein Wort von dir, Magd. Du hast nur dann zu sprechen, wenn ich es dir sage.«
    Agnes war wie vor den Kopf gestoßen, doch sie schwieg, wenngleich sie sich fragte, warum er die Kinder unentwegt anstarrte. Schließlich wandte sie sich wieder ihrer Aufgabe zu. Kurze Zeit später ertönte seine ruhige, doch gleichzeitig bedrohliche Stimme erneut.
    »Freyja, gib deinem Bruder deinen Kringel.«
    Lautlos fuhr Agnes herum und verfolgte das Geschehen.
    Als das kleine Mädchen keine Anstalten machte, seinen Kringel herauszugeben, wiederholte der Priester seine Forderung.
    »Gib deinem Bruder deinen Kringel.«
    Freyja war ein mutiges Mädchen. Normalerweise ließ sie sich nicht so schnell einschüchtern, doch der Geistliche sprach in einem Ton, der keine Widerrede zuließ. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Eher schüchtern als entschlossen entgegnete sie: »Das ist mein Kringel«, und umklammerte das mittlerweile klebrige Gebäck mit beiden Händchen.
    Als Thymmo sah, dass die sonst so beherzte Freyja zu weinen begann, musste selbst er schwer schlucken. Gewiss, sie stritten so manches Mal, und gewiss, er liebte die süßen Kringel und hätte liebend gern auch noch ihren gegessen, doch noch mehr als alle Kringel liebte er seine kleine Schwester. Deshalb nahm er all seinen Mut zusammen und sagte: »Vater, warum soll Freyja mir ihren Kringel geben? Ich habe auch einen.« Sogleich streckte er seine Hand mit dem Gebäck darauf flach nach vorne in der Hoffnung, der Geistliche hätte es bloß übersehen und zöge seine Forderung zurück.
    Doch auch das tat der Entschlossenheit des Priesters keinen Abbruch. An Thymmo gewandt erklärte er: »Ich will, dass sie dir ihren Kringel gibt, da sie bloß ein Weib ist. Sie braucht nur halb so viel zu essen wie du, weil sie später auch nur halb so schwer zu arbeiten hat wie du. Außerdem hat sie meinen Befehlen Gehorsam zu leisten.« Er wandte sich wieder an Freyja: »Ich sage es dir ein letztes Mal, du ungezogenes Kind. Gib deinem Bruder sofort deinen Kringel!«
    Aus dem unterdrückten Schluchzen war bitterliches Weinen geworden. Dicke Tränen rannen dem Mädchen über die Wangen. Noch immer hielt es sein Gebäck fest in den Händchen.
    Agnes hatte mittlerweile die Fäuste in die Falten ihres Rockes gekrallt. Sie wusste nicht, ob sie die ungerechten Worte des Kirchenmannes

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