Tochter des Schweigens
Freund. Auch nicht aus Höflichkeit. Man kann nichts vergessen – höchstens vergeben –, und das ist, weiß Gott, schwer genug.« So unvermittelt er das Thema aufgegriffen hatte, so schnell ließ er es wieder fallen und wandte sich einem anderen Gegenstand zu. »Sie waren heute mit Carlo zusammen, Landon?«
»Ja.«
»Sie sind also in die Sache verwickelt?«
»Verwickelt ist kaum das richtige Wort«, sagte Landon. »Ich habe Carlo meinen beruflichen Rat angeboten.«
»Carlo hat Glück mit seinen Freunden«, bemerkte Ascolini trocken.
»Mehr Glück als mit seiner Familie, vielleicht.«
Bevor der alte Herr antworten konnte, mischte Ninette Lachaise sich ein.
»Sie sind beide meine Freunde. Ich will nicht, daß Sie in meiner Gegenwart Streit anfangen. Sie, Peter, haben eine zu schnelle Zunge, und Sie, dottore …« , sie legte besänftigend eine Hand auf seinen Arm, »warum müssen Sie ein Ungeheuer mit Hörnern und Schweif aus sich machen? Sie haben doch die gleichen loyalen Bindungen wie Peter – wenn Sie sie auch nicht eingestehen wollen.«
Für Landon war dies eine Mahnung, sich besser zu benehmen, zumal es jemand ausgesprochen hatte, auf dessen Achtung er Wert legte. Er versuchte unbeholfen, den Schaden wiedergutzumachen.
»Tut mir leid, Doktor. Ich bin ein Fremder, der unversehens und gegen seinen Willen in eine Familienangelegenheit gezogen wurde. Ich bin reizbar und verwirrt. Carlo hat mir als erster sein Vertrauen geschenkt. Und also bin ich zu seinen Gunsten befangen. Aber natürlich geht das Ganze mich überhaupt nichts an. Nur ein Narr mischt sich freiwillig in die familiären Angelegenheiten anderer ein.«
Der alte Herr musterte ihn mit hellen ironischen Augen.
»Unglücklicherweise, Landon, brauchen wir keine Einmischung, wir brauchen Vergebung unserer Sünden und die Gnade der Besserung. Ich bin zu alt und zu stolz, darum zu bitten. Carlo ist zu jung, um die Notwendigkeit einzugestehen. Und Valeria …« Er brach ab und nippte nachdenklich an seinem Wein. »Ich habe ihr die Welt erschlossen – und sie der Unschuld beraubt, sie zu verstehen. Sie sind eine kluge Frau, Ninette, was verordnen Sie gegen eine Krankheit wie die unsere?«
»Wenn ich es Ihnen sage, kaufen Sie womöglich keine Bilder mehr von mir.«
»Im Gegenteil – vielleicht überrasche ich Sie damit, daß ich alle kaufe.«
»Dann, dottore mio, hier ist mein Rezept: Wenn Sie sich nicht alle gegenseitig umbringen wollen, muß einer von Ihnen das erste gute Wort sagen. Und Sie haben die wenigste Zeit zu verlieren.«
Ascolini schwieg lange. Das Feuer in seinen Augen verlosch, sein blühendes Gesicht verfiel, und es war Landon zum ersten Male klar, wie alt er war. Schließlich stand er auf und zog Ninettes Hand an die Lippen.
»Gute Nacht, Kind. Schlaf in Frieden.«
Zu Landon sagte er förmlich:
»Wenn Sie morgen bei Luca mit mir essen, würde ich mich gern mit Ihnen unterhalten.«
»Ich werde dort sein.«
»Sagen wir, um ein Uhr. Unterhalten Sie sich gut – mit meinem Segen.«
Sie sahen ihm nach, wie er sich durch die dichtbesetzten Tische drängte und wie die Studenten aufsprangen, um ihn an ihrem Tisch willkommen zu heißen. Wie Söhne, die einen verehrten Vater begrüßen.
Landon spürte Ninettes Augen auf sich, aber er hatte nichts zu sagen und starrte weiter auf die karierte Tischdecke, beschämt und ein bißchen verlegen. Schließlich sagte sie mit leiser Zärtlichkeit:
»Es gibt noch andere Lokale hier und andere Leute. Laß uns gehen und sie suchen.«
Niemand pfiff, als sie hinausgingen. Auch das Sordello kannte so etwas wie Achtung, doch konnte Landon nicht sagen, ob er die Zurückhaltung Ascolini verdankte oder ob er selber noch in diesem Augenblick wie ein Verliebter aussah, ein Zustand, der in der Toskana fast so feierlich behandelt wurde wie eine Beerdigung oder die Krönung eines Papstes.
Gegen drei Uhr morgens brachte er Ninette aus dem letzten Lokal nach Hause. Im Schatten ihrer Haustür küßten und umarmten sie einander, benommen und leidenschaftlich, bis sie ihn sanft von sich schob und flüsterte:
»Dränge mich nicht, Peter. Versprich, daß du mich nicht drängen wirst. Wir sind keine Kinder, und wir wissen, wohin das alles führt.«
»Ich will, daß es weit und weiter führt.«
»Ich auch. Aber ich brauche Zeit zum Denken.«
»Darf ich morgen kommen?«
»Morgen? Jeden Tag.«
»Vielleicht wirst du meiner überdrüssig und schickst mich weg.«
»Dann werde ich mich selber verfluchen
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