Tochter des Schweigens
Renaissanceakt. Ein paar Kellner hielten sich zu seiner Verfügung, während Ascolini hin und wieder an seinem weißen Wermut nippte und Notizen in ein rotledernes Büchlein machte. Landon konnte ein Lächeln über die Sorgfalt, mit der er sich in Szene gesetzt hatte, nicht unterdrücken. Wenn er auch nur ein Bauernsohn war, er hatte doch die Gabe, selbst in Lucas prächtigem barockem Rahmen Eindruck zu machen.
Er begrüßte Landon geistesabwesend und fragte übergangslos: »Haben Sie die Zeitungen gelesen, Landon?«
»Ja.«
»Was halten Sie von der Geschichte?«
»Wenn sie nicht geisteskrank ist, kann ich mir keinen einfacheren Fall für die Anklage vorstellen.«
»Und die Verteidigung?«
»Steht vor einer hoffnungslosen Aufgabe.«
»Ist er der gleichen Meinung?«
»Nicht ganz.«
»Dann muß er andere Informationen haben.«
»So scheint es.«
Ascolini ließ das Thema fallen und lächelte; ein listiger alter Fechter, der den Degen nach den ersten flüchtigen Gängen senkt.
»Lassen Sie uns einen Waffenstillstand schließen, Landon. Glauben Sie mir, ich habe nicht den Wunsch, Sie in Verlegenheit zu bringen, und ich würde mich freuen, wenn Sie mir ein bißchen vertrauten. Es mag Ihnen schwerfallen, das zu verstehen, aber ich habe durchaus ein Interesse an Carlos Wohlergehen.«
Landon dachte nach und sagte vorsichtig:
»Es könnte uns beiden weiterhelfen, wenn Sie dieses Interesse erklären würden.«
Ascolini lehnte sich in seinem Stuhl zurück, spreizte die Finger und legte die Spitzen gegeneinander. Seine Stimme nahm einen belehrenden Tonfall an.
»Wie einer Ihrer englischen Schriftsteller gesagt hat, Landon, ist die Jugend an junge Menschen verschwendet. Wenn man alt ist, hat man kein Verständnis für Verschwendung. Und man hat auch die Möglichkeit, sich das zu leisten, was ich in Carlos Fall getan habe. Das ist das Problem des Alters, mein Freund, und Sie werden sich, früher, als Sie glauben, damit auseinandersetzen müssen: Die Vielfalt möglicher Freuden wird derart eingeengt, daß man sogar primitiven Vergnügungen nachläuft. Ich bin nicht stolz darauf, noch kann ich sagen, daß es mir leid tut. Ich erkläre es Ihnen als Erfahrung. Ich bin ein eifersüchtiger Mann, mein Freund: eifersüchtig auf das, was ich habe, und auf das, was ich verloren habe. Und eifersüchtig auf die Extravaganz, mit der junge Menschen ihren Illusionen frönen. Nehmen Sie zum Beispiel Carlo. In seiner Ehe spielt er den geduldigen Gentleman. Das ist bei allen Frauen eine Torheit und besonders töricht bei einer Frau wie Valeria. Mir gegenüber spielt er den respektvollen Schüler, den pflichtbewußten Schwiegersohn. Er weigert sich einfach, zu sehen, daß ich ein alter Dickschädel bin, dessen Nase in den Staub gedrückt gehört. Die alten Bullen, Landon! Sie stehen da, geschwächt, doch kampfbereit, in Erwartung des letzten Gefechtes, das sie adeln soll, selbst wenn es sie vernichtet – und verachten die unsicheren Jungen, die sich weigern zu kämpfen. Verstehen Sie, was ich meine? Gerade Sie sollten es verstehen.«
»Selbstverständlich verstehe ich«, sagte Landon ruhig. »Ich bin Ihnen dankbar dafür, daß Sie es erklärt haben. Aber da ist etwas, was auch Sie verstehen sollten. Carlo hat zu kämpfen begonnen. Bisher hat er Sie erst herausgefordert. Sie dürfen ihn nicht verachten, weil er auf eine andere Weise kämpft als auf die Ihre.«
»Ihn verachten?« fragte der alte Herr aufgebracht. »Ich fange zum ersten Male an, ihn zu respektieren!«
»Warum haben Sie ihn dann derart erniedrigt, als er Ihnen ein Geschenk und seinen Dank anbot?«
Ascolini schüttelte düster lächelnd den Kopf.
»Auch Sie sind noch jung, mein lieber Landon. Wenn die alten Bullen kämpfen, dann gebrauchen sie alle schmutzigen Tricks, die sie kennen.« Er zuckte die Schultern, als hätte er weiter kein Interesse an dem Streit. »Jetzt lassen Sie mich Essen bestellen und einen Wein, der Ihnen ins Blut geht. Sie werden es brauchen, bei einer Frau wie Ninette Lachaise.«
Die Kellner stürzten auf sein Signal an den Tisch, und sie wurden fürstlich bedient. Beim Essen erzählte der alte Herr von seiner Kindheit als Bauernjunge im Val d'Orcia, von seiner Erziehung durch den Dorfpfarrer, von seinen Studentenjahren an der Universität Siena, seinem Kampf, in Rom Fuß zu fassen, seinen ersten Erfolgen, seiner Kaltstellung unter dem faschistischen Regime und seinem Aufstieg zu neuem Einfluß nach dem Kriege.
Er sprach ohne Groll von dem
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