Tochter des Schweigens
Stimme war sanft: »Ich hätte es erraten sollen. Niemand kann ein solches Plädoyer halten ohne eine Spur von Leidenschaft dahinter.«
»Ich habe Ihnen gesagt, ich bin nicht sicher.« Rienzis Stimme klang gereizt.
»Ich weiß. Aber sie ist sicher.«
Rienzi starrte ihn verblüfft an.
»Sie meinen, sie liebt mich?«
»Das habe ich nicht gesagt. Ich glaube nicht, daß sie weiß, was Liebe ist. Aber die einzigen Menschen, für die sie in ihrem bisherigen Leben eine Leidenschaft empfand – ihre Mutter, ihr Mann und Belloni –, sind aus ihrem Leben verschwunden. Sie konzentriert sich nun ganz auf Sie.«
Rienzi holte tief Atem.
»Das habe ich gefürchtet.«
Galuzzi sah ihn mit einem kleinen Lächeln an.
»Aber es hat Ihnen auch geschmeichelt, wie?« Er lachte trocken vor sich hin. »Wenn ich in zwanzigjähriger psychiatrischer Praxis eines gelernt habe, dann ist es das: Der menschliche Geist arbeitet niemals einfach. Wenn es so scheint, dann ist es stets besonders kompliziert. Es ist wie mit diesen Elfenbeinkugeln, die die Chinesen so geschickt zu schnitzen verstehen – eine liegt in der anderen. Wie tief man auch eindringt, immer erwartet einen eine neue Überraschung.«
Zu Galuzzis Überraschung lächelte Rienzi und zitierte leichthin:
»›Ich ging zu meinem Onkel, dem Mandarin, um ihn über Liebe zu fragen. Er sagte mir: Frage dein eigensinniges Herz.‹ Machen Sie sich keine Sorgen, Professor – vielleicht passiert es gar nicht.«
»Aber wenn es passiert«, sagte Galuzzi ernsthaft, »wenn Sie sich mit ihr einlassen, mögen die Folgen für sie beide viel schlimmer sein, als Sie sich vorstellen können.« Er drehte sich abrupt um und ging. Als sich die Tür hinter ihm schloß, setzte sich Carlo Rienzi vorsichtig neben das Bett und nahm die Hand des schlafenden Mädchens in die seine.
Die Polizei war gerüstet, jede etwaige öffentliche Unruhe bei der Urteilsverkündung im Keime zu ersticken. Die Zufahrtsstraßen zum Gericht wimmelten von motorisierten Streifen, und stämmige, mit Gummiknüppeln und Pistolen ausgerüstete Posten hielten alle Eingänge besetzt.
Der Gerichtssaal war erfüllt vom Geflüster der Menge. Rienzi stand neben der Anklagebank und sprach leise mit Anna Albertini. Als die Richter eintraten, lächelte er sie ermutigend an, berührte leicht ihre Hand und ging zu seinem Tisch. Gespannte Stille senkte sich über den Raum, während der Präsident sich setzte und mit aufreizender Umständlichkeit in seinen Akten blätterte. Dann begann er zu sprechen:
»Ich habe bei vielen Verhandlungen dieses Gerichts den Vorsitz geführt, doch ich gestehe, noch keine hat eine so schwere Last auf meine und meiner Kollegen Schultern geladen. Wir sind keine Unmenschen. Wir sind Menschen mit normalem Verstand und ausgeprägtem Mitgefühl. Jedoch – wie der Vertreter der Anklage sehr richtig bemerkt hat –,wir sind auch Diener des Gesetzes – seine Hüter, seine Repräsentanten. Auf unsere Entscheidung werden sich spätere Entscheidungen stützen und berufen. Der Präzedenzfall, den wir schaffen, wird noch lange nach unserem Tode die Rechtsprechung dieses Landes mitbestimmen. Sollten wir falsch oder unverständig urteilen, kann dadurch in vielen anderen Fällen Unrecht geschehen –«
Er brach ab und sah sich im Saal um. Seine Worte schienen Vertrauen zu stiften.
»Es hat eine Zeit gegeben, zu der das Gesetz in diesem Lande außer Kraft war. Es gab eine Zeit, in der die Menschen verwirrt waren durch die sogenannten ›Erfordernisse der Kriegführung‹ – als das einzige Gericht das Standgericht war und diejenigen, die Recht zu sprechen behaupteten, ihre zufällige Macht tatsächlich für Racheakte und Selbstbereicherung mißbrauchten. Das Gesetz war durch Politik, Machthunger und Willkür pervertiert. Und das Verbrechen, dessentwegen Anna Albertini vor Gericht steht, hat in dieser Zeit der Rechtlosigkeit seine Wurzel.« Er wartete einen Augenblick und fuhr dann mit erhobener Stimme fort: »Aber es wurde in einer Zeit begangen, in der Recht und Gesetz wieder in Kraft waren. Und daher muß Anna Albertinis Tat im Lichte des Gesetzes beurteilt werden.«
Niemand sprach ein Wort, aber man spürte, wie die Anteilnahme der Zuhörer an seinen Worten zunahm. Der Präsident blickte in seine Notizen und fuhr fort:
»Das Gesetz beurteilt jedoch, wie die Verteidigung in ihrem ungemein beredten Plädoyer ganz richtig ausgeführt hat, nicht nur die Tat an sich, sondern auch die Umstände, die zu ihr
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