Tochter des Windes - Roman
Höhe wandern lieÃen, noch höher hinauf, bis zur Kuppel
hoch oben zwischen den schwach leuchtenden karminroten Lacksäulen. Die Kuppel war das gekrönte Haupt der Pagode, Symbol des Himmelsreiches und seiner Gestirne. Und je nach Tages- oder Nachtzeit pulsierte dort oben ein Gemisch aus Strahlen und Schatten, durchwoben von Traumfarben, perlmutt- oder goldkäferbraun, rot wie ein lebendiger Rosenbusch oder leuchtend wie ein saphirblauer See. Es waren Farben, die zwischen Schlaf und Wachsein beheimatet waren, die bei Sonnenschein oder Sternenlicht ihre Beschaffenheit änderten. In einem besonderem Raum waren die Geschenke der Nanbanjin, der Fremden, ausgestellt: Statuen, eine Sonnenuhr, ein Astrolab, ein Kompass, silberne Pfeifen, Schnapsflaschen, Stahlpanzer und Helme, Parfüms aus dem Orient, wildlederne Handschuhe, mit wohlriechenden Essenzen getränkt, Faustwaffen, Panzerhemden, Degen und Schwerter aus königlichen Werkstätten. Die Privatgemächer, den Besuchern nicht zugänglich, waren mit kostbaren Rollbildern aus China geschmückt, mit exquisit bemalten Wandschirmen und Ebenholzmöbeln ausgestattet, mit Truhen voller Gewänder von bisher ungeahnter Schönheit und Pracht.
Alle, die das Schloss betraten, waren hingerissen vor Bewunderung, wandelten wie durch einen berauschenden Traum. Ihre Worte waren zu schwach, um zu schildern, was sie gesehen hatten. Wirklich, es war nicht abzusehen, welche Kraft der Fantasie es dazu brauchte; Worte waren nicht imstande, das Wunder zu beschreiben!
Doch das Schloss barg Geheimnisse. Sie waren das Werk jener, die Vorsorge für alle Fälle getroffen hatten. Denn jeder Fürst, auch der Reichste und Mächtigste, wusste, dass seine Residenz als Erstes der Gier der Eroberer zur Beute werden würde. Und so wurden Fluchtwege angelegt, ausgeklügelte Verstecke, unterirdische Labyrinthe, die sogar Brunnen
enthielten, damit für den Fall einer Belagerung der Zugang zum Grundwasser gesichert war. Jeder Baumeister verstand sein Gewerbe. Die Zugänge waren aufs Geschickteste getarnt, und die Ausgänge befanden sich weit drauÃen im Wald, unter einer Brücke oder einer Kaskade. Es war ein unterirdisches Spinnennetz von Gängen, durch die lebendige Erde geschlagen. Kleine Ãffnungen nur, schnell zu zerbrechende Trennwände, Bretter, die man beiseiteschob, Korridore, die immer weiter führten, in die Sicherheit. Die Arbeiter, die diese Tunnel und Wege in den Unterbau angelegt hatten, waren einem mächtigen Eid verpflichtet. Mit ihrem Leben und den Leben ihrer Angehörigen bürgten sie für ihr Schweigen.
Nur der Daimyo und seine engsten Vertrauten kannten diese Fluchtwege, die  â wie die Zukunft es zeigen sollte  â nur einmal benutzt wurden.
Will eine Geschichte erzählt werden, kommt es vor, dass sie nur leise spricht. Die Geschichte, die sich hier abspielte, hätte auf der ganzen Welt geschehen können, denn jedes Herz ist ein einsamer Jäger. Während das Schloss gebaut wurde, war es oft vorgekommen, dass Staatsgeschäfte den Daimyo von Azuchi fernhielten. Nobunagas Gedanken waren auf Kriegsstrategien und die damit verbundenen finsteren Pflichten gerichtet. Es war dann seine Nichte Chacha, die die Arbeiten überwachte, und weil sie von Anfang an dabei gewesen war, kannte sie die Pläne so gut wie ihr Onkel  â ja vielleicht sogar besser. Für die Zimmerleute war es ein vertrauter Anblick geworden, wenn die schöne Fürstin in Männerkleidern auf das Gerüst stieg, ebenso gelenkig wie die Handwerker selbst. Was Chacha nicht gefiel, waren die wiederholten Besuche der Keto, der Fremden eben, mit denen sich der Daimyo so gerne umgab. Chacha hatte diese schwarzgekleideten Fremden, die schlecht rochen, nie gemocht. Sie schnüffelten überall herum, schrieben und zeichneten auf, was sie sahen.
Chacha hatte den Wächtern befohlen, sie im Auge zu behalten. Sie hätte den Fremden am liebsten den Zutritt zu der Baustelle verwehrt, wagte es aber nicht, entgegen Nobunagas Vorlieben zu handeln. Kam er selbst auf die Baustelle, zeigte er den Keto stolz, wie das Schloss in die Höhe wuchs, und erfreute sich an ihrer Bewunderung und ihrem Staunen. Dabei entstand jedes Mal Unruhe. Die Zimmerleute konnten sich nicht an ihren Anblick gewöhnen. Sie arbeiteten nicht aus vollem Herzen, wenn die schwarzgekleideten Fremden unter dem Gerüst ihre Aufzeichnungen
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