Tod am Kanal
Jürgensens Leute
hatten keinen Hinweis auf die Identität des Opfers finden können. Das Einzige,
was mit Bestimmtheit feststand, war, dass es sich um einen Mann handelte.
»Der Täter hat ihn an beiden Schienen mit Draht
fixiert. Den Rest hat die Lokomotive erledigt. Der arme Kerl hatte keine
Chance.« Jürgensen schüttelte sich. »So etwas Grausames habe ich selten erlebt.
Die Rechtsmedizin wird uns sagen, ob das Opfer noch bei Bewusstsein war, als es
auf seinen Tod gewartet hat. Es ist unmenschlich, sich so was vorstellen zu
müssen.« Der kleine Hauptkommissar holte tief Luft. »Ich werde euch so schnell
wie möglich über die Untersuchungsergebnisse informieren. Wie schnell Kiel
reagiert, kann ich allerdings nicht sagen.«
Sie fuhren zur Dienststelle nach Husum zurück.
Christoph hatte kurz überlegt, ob er zuvor bei sich zu Hause vorbeifahren
sollte, um die Morgentoilette nachzuholen. Dann verschob er es aber doch auf
später.
Vom Büro aus versuchte er noch einmal, Große Jäger zu
erreichen. Doch auch dieses Mal hatte er kein Glück. Zwischendurch suchte er
Polizeidirektor Grothe auf und wollte ihm Einzelheiten berichten.
»Sparen Sie sich die Worte, mein Junge«, empfing ihn
der Behördenleiter. »Ich bin bereits im Detail informiert.«
Christoph hätte gern gewusst, woher Grothe seine
Informationen erhalten hatte. Christiansen war mit anderen Aufgaben beschäftigt
und hatte sicher nur in Kurzform berichten können.
»Leider können wir das Gerangel um die Zuständigkeiten
nicht immer vermeiden. Nehmen wir es als positives Zeichen, dass sich keiner
bemüht, die Arbeit abzuwimmeln, sondern alle beteiligten Stellen daran
interessiert sind, an der Klärung mitzuwirken. Sie sollten weiterarbeiten wie
bisher.«
Grothe zog an seiner Zigarre, dass die Spitze hell
aufglühte, rollte den Rauch im Mund herum, spitzte die Lippen und blies die
blauen Schwaden ohne jede sichtbare Regung in Christophs Richtung. Es war dem
Polizeidirektor nicht einmal anzumerken, ob er sich im Stillen über Christophs
Bemühungen, einen Hustenreiz zu unterdrücken, amüsierte. Dann sah Grothe
Christoph eine ganze Weile an.
»Sie haben sich gut eingelebt, mein Junge. Zuerst war
ich skeptisch, als mir ein Sesselhocker aus Kiel avisiert wurde. Inzwischen
gehören Sie fast zu uns.« Er nickte bedächtig mit seinem massigen roten Schädel.
»Aber nur fast. Wir – Sie und ich – werden immer nur geduldet sein bei den
Nordfriesen. Wir haben beide ein Stigma. Sie kommen aus Kiel. Ich bin
Dithmarscher.«
Grothe musste Christophs verblüfftes Gesicht
registriert haben. So wortreich war der Chef nie gewesen.
Der Polizeidirektor zog erneut an seiner Zigarre. Dann
ließ er fast träumerisch seinen Blick durch das Zimmer gleiten, dessen Wände
sicher millimeterdick mit Nikotinablagerungen überzogen waren.
»Ich werde euch alle jedenfalls vermissen.« Grothe
konnte nicht vermeiden, dass sich ein Hauch Wehmut in seine Stimme mischte.
Dann machte er mit seiner Hand, die die Zigarre hielt, eine Bewegung, die
bedeutete, dass Christoph für den Augenblick entlassen war.
Als Christoph ins Büro zurückkehrte, saß Mommsen am
Computer und bearbeitete seine Tastatur. Christoph bereitete währenddessen den
Morgentee.
Eine gute halbe Stunde später flog die Bürotür
geräuschvoll auf, und Große Jäger polterte herein. Wortlos ließ er sich in
seinen Bürostuhl fallen, zog mit der Schuhspitze die Schreibtischschublade
heraus und parkte seine Füße darin. Dann zündete er sich eine Zigarette an und
gähnte herzhaft. Nach einer Weile drehe er sich zu Christoph um.
»Was ist das für eine miese Stimmung hier? Kann keiner
grüßen, wenn man hereinkommt?«
Ȇblicherweise ist der in der Pflicht, der den Raum
betritt.«
»Überkommene Konventionen.« Große Jäger zeigte mit dem
Daumen über die Schulter. »Als ich Kind war, wie der da, war es für uns
selbstverständlich, zu grüßen.« Dann kniff er die Augen zusammen und sah
Christoph an. »Mensch. Du siehst aber zerknittert aus. Hast du einen Zug durch
die Gemeinde gemacht oder hat dir die Arzthelferin heute Nacht
Biologieunterricht erteilt?«
»Bleib bitte sachlich.«
Große Jäger stutzte, als Christoph ihn auf ungewohnte
Weise zurechtwies.
»Wie ich meinen Feierabend verbringe, ist meine Sache.
Wo bist du heute Nacht gewesen?«
Der Oberkommissar ließ ein gekünsteltes Lachen hören.
»Nun hör aber auf. Mich machst du an, weil ich einen Scherz von mir gebe, und
du fragst mich nach
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