Tod am Laacher See
abgesehen von
kleinen Verkehrsdelikten. Daher schien Wärmland die Freude über ihren
vermeintlich klar identifizierten Täter als etwas verfrüht.
Nach der Besprechung fuhr Wärmland nach Mayen. Dort brachte er vor
seinem eigenen Team und seiner Vorgesetzten unmissverständlich seine
Einschätzung zum Ausdruck. Und Melchior teilte seine Skepsis. Daher war es nur
konsequent, weiter die Augen und Ohren offen zu halten und nach einer späten
Spur oder einem späten Zeugen Ausschau zu halten.
Als Wärmland wieder allein in seinem Büro saß, hoffte er bei jedem
eingehenden Anruf auf die Information, dass man Rogalla gefasst hatte. Doch ein
solcher Anruf blieb den ganzen Tag über aus, und sie gingen unverrichteter
Dinge ins Wochenende. Wärmland gönnte sich zwei leckere Teilchen in seinem
Lieblingscafé Geisbüsch am Brückentor, was er diesmal nicht unter Süßkram
verbuchte wie seine Colafläschchen, sondern unter »Nervennahrung«. Denn er war
sich sicher, dass die vergangene Woche den einen oder anderen Nerv über Gebühr
strapaziert hatte. Wobei er sich eingestehen musste, dass er gewisse
Fähigkeiten zeigte, sich ihren Genuss schönzureden.
Wärmlands Abend verzeichnete nur ein nennenswertes Ereignis: den
Anruf seiner Schwester Ulli. Sie weinte und war empört darüber, dass er Jörg
vor die Tür gesetzt hatte.
»Wie konntest du das nur tun?«, war ihr erster Satz, aus dem
Wärmland ihre ganze Verzweiflung heraushörte. »Konntest du nach all den Jahren
nicht ein klein wenig versöhnlicher sein?«
Wärmland war hin- und hergerissen zwischen einer heftigen Erwiderung
und einem Besänftigungsversuch. Es wurde eine Mischversion. »Er ist also doch
noch bei dir gelandet. Mir hat er jedenfalls keine Wahl gelassen, Ulli. Ich
kann in meiner Wohnung keinen Trinker beherbergen, der mein kleines Nest, in
das ich mich nach meiner Arbeit zurückziehen möchte, völlig auf den Kopf
stellt.«
»Jörg ist doch kein Trinker!«, gab sie immer noch empört zurück, und
Wärmland vermutete, dass sie vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben ein
Gespräch nicht in gutem Einvernehmen beenden würden. Offenbar hatte es sein
Bruder verstanden, Ulli von seiner Unschuld am gestrigen Auszug zu überzeugen
und ihn zum Sündenbock zu machen. »Er hat einfach nur zu viel Druck gehabt und
war mit der Situation überfordert. Das müsstest du doch wissen, dass manche
Männer in Bedrängnis mal etwas zu viel trinken. Deshalb sind sie noch lange
keine Trinker.«
Wärmland seufzte und schilderte seiner Schwester so ruhig, wie er
konnte, seine Wahrnehmung der »Situation« bis hin zur halb leeren
Whiskeyflasche. »Er hat es doch selbst gesagt, als er gegangen ist. Es käme von
den langen Polarnächten, hat er gesagt. Das war also keine spontane Reaktion
auf den Stress mit mir. Er trinkt, und er ist schmutzig und stinkt. Ich habe
ihn schon ohne Flasche, sauber und wohlriechend nicht gut ertragen können. So
ist er absolut unerträglich für mich. Ich hoffe, du kannst es irgendwie
verstehen. Aber er muss fernbleiben von mir. Und du, liebe Schwester, solltest
achtgeben, dass er nicht auch noch dein Leben in Mitleidenschaft zieht.«
Wärmland hörte, dass sie wieder weinte.
»Ich kann ihn nicht einfach so rauswerfen. Er hat doch nichts außer
uns. In Lappland hat er sich mit Handwerkerjobs durchgeschlagen und mal dies
und mal jenes gemacht. Er hat kein Geld und braucht eine Bleibe, von wo aus er
irgendwie neu anfangen kann. Das kann er doch nicht, wenn er unter einer Brücke
haust.«
»Die Stadt Köln bietet jedem Obdachlosen eine Unterkunft an. Ich
erwähne es nur mal so, falls es dir auch zu viel wird.«
Sie weinte noch heftiger. »Jan, er ist unser Bruder. Wir können ihn
nicht einfach hängen lassen.«
»Er wäre besser am Polarkreis geblieben. Wir hatten unser Leben doch
ganz ordentlich auf der Reihe. Jetzt wird er es empfindlich stören. Du wirst es
erleben. Ich weiß, dass du ihn nicht einfach vor die Tür setzen kannst. Aber
wenn es zu arg wird mit ihm und er dir Schwierigkeiten macht, dann greif ich
ein und helfe dir. Okay?«
Für einen Moment erhielt Wärmland keine Antwort. Dann bat Ulli ihn,
ihr zu sagen, dass er noch an eine Chance für ihren Bruder glaubte. Trotz
seiner ausgeprägten Skepsis in diesem Punkt bejahte Wärmland die Frage. Sie bat
ihn außerdem, Jörg noch nicht ganz aufzugeben. Auch das bejahte Wärmland
zögernd und mit Unbehagen. Aber er wollte es seiner kleinen Schwester nicht
noch schwerer
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