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Tod am Nil

Tod am Nil

Titel: Tod am Nil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anton Gill
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mußte, war der Torwächter; aber sie hatte diese Nacht mit Bedacht erwählt. Der alte Mahu hatte Dienst, und wenn er erst sicher war, daß alles schlief, verließ er niemals seinen Unterstand am Haupttor. Höchstwahrscheinlich schlief auch er.
    Sie drückte sich durch das kleine Seitentor, das auf die Gasse hinausführte und das tagsüber immer offen stand, damit die Lieferanten durch den Gemüsegarten zu den Küchen gelangen konnten. Am Tage herrschte hier reger Betrieb; jeder, der das Tor nach der zweiten Stunde der Nacht benutzte, hatte jedoch die Pflicht, es zu verriegeln. Aber niemand nahm es allzu ernst mit dieser Pflicht. Außerdem hatte sie schon als Kind, bevor sie das Haar zur Locke der Jugend über die rechte Schulter gedreht trug, gewußt, wo der verborgene Riegel saß und wie man ihn beiseite schob.
    Jetzt trug sie das Haar nicht zur Locke gedreht. Es war offen und fiel ihr in einer dunkelbraunen Kaskade über die schmalen Schultern. Das veränderte ihr Gesicht; sie sah aus wie eine Fremde, wie eine völlig Erwachsene. Sie versuchte, sich vorzustellen, wie sie aussehen würde, wenn sie alt genug wäre, eine Perücke zu tragen wie ihre Mutter und die großen Damen bei Hofe im Kreise der Königin Anchsenpaamun, die nicht viel älter war als sie selbst.
    Ausnahmsweise war das kleine Tor verschlossen, aber sie schob rasch den Steinriegel beiseite, schlüpfte hinaus, zog das Tor hinter sich zu, verriegelte es aber nicht wieder. Wenn sie unbemerkt zurückkommen wollte, mußte sie sich beeilen, denn die ersten Dienstboten standen früh auf, schon um die neunte Stunde der Nacht. Der Temperatur nach mußte es jetzt die sechste Stunde sein. Im zarten Wind wehte schon der erste Hauch des Morgens. Sie durfte keine Zeit verlieren.
    Sie kannte den Treffpunkt, den Teich in dem kleinen Park an der Südseite des Palastgeländes. Sie kannte ihn, weil sie häufig dort hinging. Den Teich in ihrem eigenen Garten hatte ihr Vater fünf Jahre zuvor zugeschüttet, nachdem ihr kleiner Bruder darin ertrunken war; aber sie saß gern am kühlen Wasser und störte sich nicht an den Stechfliegen, von denen die Leute aus dem Norden sich so geplagt fühlten. Und jetzt ging sie wieder hin - zu einem großen Abenteuer, dem größten Abenteuer ihres Lebens vielleicht. Ihre Erregung überwog die Angst, und Angst hatte sie: Was sie am meisten hatte zögern lassen, war der Gedanke an den Tod ihrer beiden Freundinnen. Aber Iritnofret war am Fluß gefunden worden, außerhalb des Palastgeländes, und Neferuchebit im Hause ihrer Familie. Außerdem würde sie ja nicht allein sein, vom Hin- und Rückweg abgesehen. In der Stunde, die sie zusammen verbringen würden, wäre sie geschützt. Der Gedanke verlieh ihren Füßen Flügel. Sie wollte keinen Augenblick der kurzen Zeit, die sie vor sich hatten, vergeuden.
    Schon lag der Park vor ihr. Er war kühl und dunkel, aber vertraut, und sie spürte keine Angst, als sie ihn betrat; dennoch berührte sie kurz das tjet -Amulett an ihrem Hals, das ihr Glück bringen sollte. Sie spürte, wie ihr Körper vor freudiger Erwartung angespannt wie eine Lautensaite war. Jede Pore war lebendig, und sie fühlte jede einzelne Haarwurzel auf ihrem Kopf.
    Leichtfüßig bahnte sie sich ihren Weg durch das Schattendunkel; jetzt fürchtete sie nur noch, es könnte niemand dasein, der sie erwartete. Dieser Gedanke tauchte ihr Herz in Finsternis.
    Aber dort, am Rande des Teiches, halb verborgen im tiefen Schatten einer Gruppe schrägstehender Palmen, erblickte sie die vertraute Gestalt: schlank, beruhigend, lächelnd kam sie ihr entgegen.
    »Du bist gekommen.«
    »Ja.«
    »Ich habe nie daran gezweifelt, daß du kommen würdest.«
    »Mir ist, als stände ich in Flammen«, sagte sie und schämte sich sofort ihrer Offenheit.
    »Dies ist ein feierlicher Augenblick. Wir müssen ihn einander und den Göttern weihen.«
    »Ja.« Ihre Ehrfurcht war so groß, daß sie nur die Leidenschaft in seiner Stimme hörte, nicht den anderen Ton, der in ihr mitschwang. Von den Bildern im Buch der Unterweisung , die sie heimlich in der Bibliothek ihres Vaters angeschaut hatte, wußte sie ungefähr, was sie zu erwarten hatte, und sie hatte Tiere dabei gesehen. Im Grunde aber war sie voller Unschuld und Ahnungslosigkeit.
    »Wir wollen nicht, daß die Götter unsere Tat als böse betrachten.«
    »Das würden sie nicht tun. Es ist gut, Leben zu erschaffen.«
    »Aber in einer bösen Welt muß Unschuld beschützt werden. Komm. Das Wasser wird uns

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