Tod einer Strohpuppe: Kriminalroman
gelesen hat. Der war kein Gauner. Ein junger Prinz war der.«
»Aber was ist ihm zugestoßen? Den Akten war nichts zu entnehmen. Ist es nach Gaffys und Swilters Tod passiert?«
Dad Legsey nickte. »Er hat weitergemacht. Im Dezember damals, kurz vor Weihnachten, ist er von ’nem Fenster runtergefallen,
das er aufknacken wollte.«
»Wo denn?«
Dad Legseys Stimme nahm einen anderen Tonfall an. »Normannenhaus. In Thinbeach.«
Natürlich Thinbeach, dachte Fletcher.
»Welches Haus denn?«
»Großes Haus am Ende von der Straße.«
»Sie meinen Blindy House?«
»Genau. Da gleich beim Damm, wo der See ist. Ich bin da oft langgegangen, nachdem er runtergefalln ist, und hab’s mir mit
Paddys Augen angeschaut. Ich konnt schon sehn, warum er da reinwollte, mein Paddy. ’s ist verführerisch. Von vorn sieht’s
aus wie ’ne kleine Burg, aber wenn man hintenrum geht, ist da so ’n Anbau für die verdammten Diener. Da muss man nur rauf
und man hat’s geschafft. Oben sind große Fenster.« Dad Legsey sah es geradezu vor sich und zeigte mit den Händen, wie groß
die Fenster waren. »Bloß die Karte durchschieben und fertig, da ist kein schickes Schloss, wo ’nem Jungen das Leben schwermacht.«
»Das haben Sie alles im Vorbeigehen gesehen?«
»Danach. Mein Paddy muss da oben gewesen sein und hatte die Hand schon unterm Schiebefenster. Vollmond war’s in der Nacht
damals, da konnt er alles sehn.«
Fletcher meinte den jungen Fassadenkletterer vor sich zu sehen, wie er mit beiden Beinen, für immer erstarrt, auf dem Dach
des Anbaus stand, vor sich die Fensterscheibe, die von seinem im Mondlicht schimmernden Atem beschlagen war.
»Und dann?« Sals Stimme war sanft.
»Paddy fiel runter. Prallte von dem Dach drunter ab und ist nach hinten gekippt und auf ’n Rücken gefallen. Er ist auf ’m
Kopf gelandet, mein Paddy.«
»Und die Verbrechenswelle ging endgültig zu Ende«, sagte Fletcher. »Terry Swilter, Shane Gaffy und dann Paddy Legsey. Ruhe
und Ordnung waren wiederhergestellt.«
Wieder blitzten Dad Legseys Augen auf. »Zufrieden? Die Scheißbullen damals, die kamen und sagten mir, er ist runtergefallen,
und grinsten sich dabei einen ab.«
»Sagten sie irgendetwas zu den Umständen des Sturzes?«
»Drei Meter auf Steinboden.«
»Ich meine, sagten sie irgendetwas über den Besitzer von Blindy House? Haben Sie jemals von einem Mann namens Alain de Minching
gehört?«
»Normanne? Klingt so. Aber nein, da war keiner im Haus, als Paddy da hochgeklettert ist. Der war klug, hab ich doch gesagt.«
»Glauben Sie, dass er durch einen Unfall ums Leben gekommen ist?«
Dad Legsey drehte das Gesicht zur Wand.
»Ist er nich«, sagte er.
»Es war kein Unfall, wollen Sie sagen?«
»Nein. Es
war
’n Unfall. Aber er ist nich gestorben.«
»Aber er ist doch mit dem Kopf aufgeschlagen.«
»Die Legseys haben Dickschädel. Mein Paddy ist noch da.«
Dad Legsey fuhr mit dem Finger über die nackte Wand, als zeichnete er dort irgendetwas nach.
»Wo?«, fragte Fletcher.
»Was meinen Sie wohl wo? Er ist mein Sohn.«
»Wollen Sie sagen, dass er hier ist,
hier in diesem Haus
?«
»Wo soll er denn sonst sein? Er ist mein Sohn.«
»Er steht nicht im Wählerverzeichnis.«
»Er wählt nich, verdammt noch mal.«
Fletcher betrachtete die Muster, die Dad Legseys Finger auf die Wand malten.
Aufgrund der Bildunterschrift im Doomsday Book –
Nun hat sie ihn, die Maid der Isle of Eels –
hatte er geglaubt, dass Paddy Legsey beim Sturz auf die geflieste Terrasse des Blindy House ums Leben gekommen war. Aber offensichtlich
hatte der alte Bulle keinen Toten fotografiert, sondern nur einen Bewusstlosen. Vielleicht hatten die Leute von
The Wake
angenommen, dass der Schwerverletzte genau wie Shane Gaffy sterben würde, und ihm eine Strohpuppe in die Brusttasche geschoben.
Aber die Legseys hatten kräftige Schädel. Paddy hatte den Sturz überlebt und trotzdem nie wieder eine Straftat begangen. Er
lebte, aber ...
»Ist er behindert?«, fragte Sal.
Dad Legsey nahm die Hand von der Wand. Dann streckte er die Finger, stand auf und hakte die Daumen in den Gürtel. Der alte
Raufbold aus den Fens, der vor nichts und niemandem Angst hat.
»Ist das wichtig?«
»Es ist absolut entscheidend«, sagte Sal. »Glauben Sie mir.«
Er dachte eine Weile nach. »Kann schon sein, dass Besuch ihm guttut.« Er sah Sal an. »Aber er wird euch nix sagen. Er redet
nie.«
Der vierundvierzigjährige Paddy Legsey hörte
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