Tod eines Fremden
und sah Hester mit weit aufgerissenen Augen an.
»Ich weiß es nicht«, flüsterte sie ihm zu. »Keine Ahnung.«
Die Geschworenen starrten einander an. Im Gerichtssaal schwirrten die Vermutungen durcheinander.
»Wichtigtuerei!«, sagte Fowler hörbar, die Stimme vor Empörung gepresst.
Rathbone lächelte in sich hinein, aber Hester hatte eine furchtbare Ahnung, dass es genau das war und dass Fowler nicht einfach so herausgeplatzt war, sondern Bescheid wusste.
Margaret lehnte sich vor und ballte ihre Hände zu Fäusten.
Fowler rief seinen nächsten Zeugen auf, den Polizeichirurgen, von dem Rathbone nichts weiter wissen wollte, und dann die Nachbarn, die an jenem Abend etwas gesehen oder gehört hatten.
Hin und wieder blickte Rathbone auf seine Uhr.
»Worauf wartet er denn noch?«, zischte Monk.
»Ich weiß nicht!«, sagte Hester einen Ton schärfer als gewollt. Was erhoffte sich Rathbone? Welche Lösung gab es denn noch? Er hatte keine einzige Aussage in Frage gestellt, geschweige denn diese Alternative vorgebracht, die er auf so dramatische Weise angekündigt hatte.
Das Gericht vertagte sich, und die Menschen strömten in die Gänge und Vorräume. Ein ums andere Mal hörte Hester jemanden sagen, man habe keine Lust wiederzukommen.
»Ich verstehe nicht, wie ein Mann wie Rathbone solch einen Fall übernehmen konnte«, sagte einer voller Abscheu und stieg die breite Treppe zur Straße hinunter. »Er weiß doch, dass er hier nur verlieren kann.«
»So gut, wie wir angenommen haben, ist er jedenfalls nicht«, sagte sein Begleiter.
»Er weiß, dass sein Mandant schuldig ist!« Der Erste schürzte die Lippen. »Trotzdem denkt man doch, er würde es wenigstens versuchen.«
Hester war so wütend, dass sie losstürzte, jedoch innehielt, als sie den Druck von Monks Hand auf ihrem Arm spürte. Schwungvoll drehte sie sich zu ihm um.
»Was wolltest du denn sagen?«, fragte er sie.
Sie holte tief Luft und merkte, dass ihr nichts Sinnvolles einfiel. Sie sah Margarets Kummer und wachsende Verwirrung. »Er wird kämpfen!«, versicherte sie ihr, denn sie wusste, wie sehr Margaret daran glauben wollte.
Margaret versuchte zu lächeln. Sie bat um Entschuldigung und nahm sich einen Hansom nach Hause, um sich auf den Abend am Coldbath Square vorzubereiten.
Dem vierten Verhandlungstag blickte Hester mit sinkendem Mut entgegen. In der Nacht zuvor hatte sie wach gelegen und überlegt, ob sie zu Rathbones Haus gehen und nach ihm verlangen sollte, hatte dann aber eingesehen, dass sie dort nichts Hilfreiches erfahren würde und sie selbst auch nichts zu bieten hatte. Weder hatte sie eine Vermutung, wer Katrina Harcus getötet haben konnte, noch warum. Sie wusste nur, dass Monk es nicht war. An Dalgarnos Schuld glaubte sie immer weniger, obwohl sie den Mann nicht mochte. Wenn sie ihn in diesen Tagen vor sich sah, konnte sie in seiner Miene, in seinen hängenden Schultern, den zusammengepressten Lippen und der Blässe seiner Haut zwar Furcht erkennen, aber keinerlei Mitleid für die Tote. Auch um Livia Baltimore schien er sich kaum zu sorgen. Sie wurde mit jeder Zeugenaussage, die belegte, wie gefühllos er eine junge Frau behandelt hatte, die an seine Liebe geglaubt und ihn wirklich geliebt hatte, ein bisschen unglücklicher.
Am Morgen bei Gericht fiel Hester auf, dass Livia ein verquollenes Gesicht hatte und so verkrampft dasaß, als klammerte sie sich noch immer an ihre Hoffnungen. Selbst wenn Rathbone ein Wunder bewirkte und für Dalgarno einen Freispruch erreichte, was hätte er schon unternehmen können, um Dalgarno auch von arglistiger Täuschung und Bestechlichkeit freizusprechen?
Fowler erklärte das Plädoyer der Anklage für abgeschlossen.
Hester legte ihre Hand kurz auf die von Monk. Das war leichter, als Worte zu suchen, wo ihr keine einfielen.
Rathbone erhob sich, um die Verteidigung zu eröffnen. Die Besuchergalerie war fast zur Hälfte leer. Er rief den Gutachter wieder herein.
Fowler beschwerte sich. Er verschwende nur die Zeit des Gerichts. Der Gutachter habe bereits im Detail ausgesagt, das Thema sei erschöpfend behandelt worden.
»Euer Ehren«, sagte Rathbone geduldig, »mein geschätzter Kollege weiß wie alle hier, dass ich ihn nur nach den Themen fragen kann, die bereits während der ersten Vernehmung besprochen wurden.«
»Gibt es denn überhaupt noch irgendwelche nicht besprochenen Themen?«, fragte Fowler in die Zuschauermenge hinein, was eine Welle des Gelächters zur Folge hatte. »Über die
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