Tod eines Lehrers
dem gleichen Muster vorgingen. Als er in jener Nacht wieder zu mir kam, habe ich ihm klipp und klar zu verstehen gegeben, dass ich das nicht länger mitmachen würde, dass ich zur Polizei gehen würde, wenn er nicht sofort aus meinem Zimmer verschwände. Ich muss so überzeugend geklungen haben, dass er ab dieser Nacht nie mehr mein Zimmer betreten hat. Ich hatte gewonnen und doch verloren. Meine Kindheit hat nur acht Jahre gedauert, und meine Jugend war voll von den Erinnerungen an das, was mein Vater mir angetan hatte. Selbst heute wache ich manchmal nachts auf, schweißüberströmt, bekomme kaum Luft und habe richtig Panikattacken.« Sie hielt an dieser Stelle inne, schenkte sich noch ein halbes Glas Whiskey ein, trank es aber noch nicht. Stattdessen rauchte sie noch eine Zigarette und sah Brandt durch den Rauch hindurch an.
»Haben Sie Ihren Vater nie angezeigt?«
»Nein, das war nicht möglich, denn mein Vater ist ein sehr angesehener Bürger – er ist Pfarrer. Pfarrer in Egelsbach, wo ihn jeder kennt.«
»Und Ihre Mutter?«
»Sie weiß es, aber sie will es nicht wahrhaben, auch das typische Muster. Ich bin, wie gesagt, der klassische Fall eines Missbrauchsopfers. Dazu zählt vielleicht auch, dass ich häufig wechselnde Beziehungen habe, übrigens der wirkliche Grund, warum mein Mann und ich uns getrennt haben. Er hat es nicht mehr ausgehalten, wie ich ihn ein ums andere Mal betrogen habe. Dabei habe ich sie alle nur ausgenutzt, manchen habe ich so wehgetan, psychisch und physisch … Und ich habe es genossen.«
»Inwiefern haben Sie ihnen wehgetan?«
»Niemand ist verletzbarer als ein geiler Mann. Und wenn er sich dazu noch in einen verliebt hat … Das war jedes Mal ein wirklich geiles Gefühl.«
»Warum erzählen Sie mir das alles?«
»Das war nur die Einführung. Es war am 11. September 2001, jenem historischen Datum, als eine Schülerin, deren Namen ich nicht nennen werde, am Nachmittag gegen drei in meine Sprechstunde kam und mir eine Geschichte erzählte, die ich erst nicht glauben wollte. Aber sie hat wie ein Häufchen Elend vor mir gesessen und hat so bitterlich geweint, dass ich ihr schließlich glauben musste, weil ich ja selbst einschlägige Erfahrungen gesammelt hatte. Sie hat mir gesagt, was Schirner und Teichmann so treiben, aber ich hatte keine Beweise, und dieses Mädchen natürlich auch nicht. Sie haben sie erpresst, unter Drogen gesetzt und schließlich gemeinsam vergewaltigt, anders kann ich es nicht nennen.«
»Wie wurde sie erpresst? Wie kann man eine Schülerin erpressen, wenn sie sich nichts hat zuschulden kommen lassen?«
»Das ist ganz einfach. Schauen Sie, auf die Georg-Büchner gehen viele Schüler, die aus guten Verhältnissen stammen. Manche haben ein ganz normales Elternhaus, bei andern kümmert es die Eltern recht wenig, was ihre Kinder so treiben, aber ein paar setzen ihre Kinder unter einen enormen Leistungsdruck. Und ein Lehrer, der ein bestimmtes Ziel hat, findet relativ leicht heraus, bei wem es brennt, vor allem, wenn er Vertrauenslehrer ist. Also haben Schirner und Teichmann sich die Schülerinnen herausgepickt, die zum einen in den entscheidenden Fächern schwach waren und zum andern über ein eher geringes Selbstbewusstsein verfügten. Außerdem hat das Elternhaus eine entscheidende Rolle gespielt. An Mädchen, deren Eltern sich sehr um das Wohl gekümmert haben, im positiven Sinn, hätten sie sich nie vergriffen. Es ist so verdammt einfach, aber man muss erst mal draufkommen. Und dann haben sie den Mädchen gesagt, sie könnten ihnen helfen, bessere Noten zu kriegen, ohne natürlich gleich mit der Tür ins Haus zu fallen. So wurde Vertrauen aufgebaut – was für ein Hohn, wenn man bedenkt, dass Schirner Vertrauenslehrer war! –, sie haben die Mädchen in Sicherheit gewogen, und dann,wenn diese nicht damit gerechnet hatten, haben sie eine Gegenleistung eingefordert. Schirner und Teichmann haben, obwohl dies nicht erlaubt ist, heimlich Nachhilfe gegeben, und wenn eine Klassenarbeit oder eine Klausur trotzdem verhauen wurde, haben sie die Mädchen unter vier Augen die Arbeit schreiben lassen, und plötzlich wurde aus einer ursprünglichen Fünf eine Zwei oder aus drei Punkten zehn oder elf. Und glauben Sie mir, wenn einem so viel Gutes widerfährt, spricht man nicht mal mit der besten Freundin darüber, denn es ist ja schließlich ein Geheimnis und man will ja solche wohltätigen Lehrer nicht in Misskredit bringen. So wurde zusätzliches Vertrauen aufgebaut,
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