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Tod eines Mathematikers

Tod eines Mathematikers

Titel: Tod eines Mathematikers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Herrnkind / Walter K. Ludwig
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Bevor sie fragen konnte, sagte Katja Dorn: »Moin, moin, Karin. Das ist Alexandra, eine Verwandte aus Bremen.«
    »Willkommen in Neuwarden«, antwortete Karin, notierte die zwei Kännchen Kaffee, die wir bestellten und verschwand.
    Katja Dorn holte einen Stift aus ihrer Jackentasche und nahm eine Papierserviette. »So«, sagte sie bestimmt, »dann schieß mal los. Wer sind deine Eltern?«
    Eine geschlagene Viertelstunde stand ich meiner Doppelgängerin, die begeisterte Hobby-Ahnenforscherin war, Rede und Antwort. Wir hatten zu Hause ja ein altes Stammbuch gehabt, doch über vier Generationen war es nicht hinausgegangen. Außerdem hatte ich schon seit Jahrzehnten keinen Blick mehr hineingeworfen. Also kramte ich in meinem Gedächtnis nach den Geburtsnamen meiner Großmütter und Urgroßmütter, während Katja Dorn versuchte, meinen Stammbaum auf die Serviette zu malen und dabei mit dem Kugelschreiber kleine Löcher ins Papier riss.
    Doch es schien nicht die winzigste Verbindung zwischen meiner Familie und der von Katja Dorn zu geben. Weder die Namen noch die Orte stimmten überein.
    »Bestimmt hat die gemeinsame Vorfahrin noch früher gelebt, sodass wir sie nur noch nicht gefunden haben. Mein Stammbaum reicht zehn Generationen zurück, bis ins Jahr 1699«, plapperte Katja Dorn munter drauflos und erzählte aus ihrem Leben. Sie war zwei Jahre älter als ich, nicht verheiratet und arbeitete als Verwaltungsangestellte im Cuxhavener Rathaus. Ich hörte nur mit halbem Ohr zu, überlegte, ob ich meiner neuen Bekannten erzählen sollte, dass meine Mutter 1972   Jahr eine alte Schulfreundin in Neuwarden besucht hatte.
    Plötzlich keimte in mir ein furchtbarer Verdacht. War ich ein Kuckuckskind? War meine Mutter in Neuwarden schwanger geworden? Das würde erklären, warum ich rein gar nichts von meinem Vater geerbt hatte. Und warum er mich wie eine Aussätzige behandelt und nicht in seinem Testament bedacht hatte.
    Wenn sich meine dunkle Ahnung bewahrheitete, wäre Katja Dorn meine Halbschwester. Ihr Vater wäre auch mein Vater.
    Was ich fühlte? Schwer zu sagen. Ich war verwirrt und merkwürdigerweise sträubte sich plötzlich alles in mir gegen die Möglichkeit, gar nicht das leibliche Kind meines Vaters zu sein. Trotz der Verletzungen und Demütigungen, die er mir all die Jahre über zugefügt hatte, wollte ich nun doch keinen anderen Vater. Ein neuer, unbekannter Vater, womöglich einer, der mich nicht gewollt und meine Mutter im Stich gelassen hatte, flößte mir noch mehr Angst ein, als der Vater, der mich über Jahre seelisch misshandelt hatte. Denn diesen Schmerz hatte ich hinter mir. Was mich erwartete, wusste ich nicht. Deshalb scheute ich davor zurück, Katja Dorn nach ihrer Familie zu fragen. Ich wollte gar nicht wissen, wer ihr Vater war, ob er noch lebte, ihn womöglich gar kennenlernen.
    Demonstrativ blickte ich auf meine Armbanduhr. »Tut mir leid, Katja. Ich muss los. Sobald ich wieder in Bremen bin, schicke ich dir eine Kopie meines Stammbaumes.«
    Katja war sichtlich enttäuscht. »Oh, wie schade. Wie lange bleibst du denn noch in Neuwarden?«
    »Ich fahre morgen in aller Frühe zurück«, log ich. Eigentlich hatte ich zwei Wochen für meinen Aufenthalt eingeplant. Wir tauschten unsere Handynummern aus und bezahlten. Vor der Tür des Dorfkrugs wollte ich Katja die Hand reichen.
    Sie umarmte mich. »Mach’s gut«, sagte sie. »Und melde dich. Wir sollten unbedingt in Kontakt bleiben.«
    Ich nickte, unfähig auch nur ein Wort des Abschiedes zu erwidern.
    In der Pension packte ich sofort meine Sachen und raste über die Autobahn zurück nach Bremen, als wäre ich auf der Flucht. Außer der Frage, ob ich gerade meine Halbschwester getroffen hatte, trieb mich noch etwas anderes um: Wenn ich wirklich ein Kuckuckskind war, lag hier vielleicht das Motiv für den Mord an meinem Vater?
    *
    Die ehemalige Fabrikantenvilla in Bremen-Oberneuland hätte der Sitz einer Botschaft sein können. Ionische Säulen säumten das Portal. Halbrunde Fenster aus Glasmosaik und Jugendstilornamente schmückten die Fassade. Über dem Eingang hieß Schachgöttin Caissa die Besucher willkommen. Das blank polierte Messingschild am Eingang verriet, dass im Erdgeschoss die Bremer Schachliga ihren Vereinssitz hatte, während im oberen Stockwerk eine Anwaltskanzlei residierte. Anders hätte sich die Schachliga ihren mondänen Vereinssitz auch wohl kaum leisten können.
    In dem großzügigen, holzgetäfelten Foyer standen etwa zwanzig Tische,

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