Tod im Moseltal
ja, wir haben uns … entfernt.« Sie überlegte. »Claudille hat mir aber Sachen aus Thomas’ Kindheit erzählt, die ziemlich furchtbar sind. Ich hatte bislang keine Ahnung davon. Er muss damals sehr schwierig gewesen sein, ein richtiger Tyrann.«
Sie schaute Peter wieder in die Augen. »Kannst du dir vorstellen, wie schwer das für mich, gerade für mich ist, zu begreifen, dass ich meinen Mann, den Vater meiner Kinder, mit dem ich seit zehn Jahren in einem Haus zusammenlebe, gar nicht richtig kenne?«
»Es ist für dich wie ein Erdbeben, das deine Grundmauern zum Wanken bringt.«
Marie nickte.
Sie blieben eine Weile bewegungslos sitzen. Dann löste Peter vorsichtig seine Hände und richtete sich wieder auf. Marie hob die Augenbrauen und versuchte ein abschätziges Lächeln, das ihn sichtlich irritierte.
»Musst du gleich ins Büro? Dann solltest du dich noch umziehen.« Mit einer kurzen Kopfbewegung deutete sie auf das frisch gebügelte Hemd oder besser auf das Marmeladenbrötchen, das sich beharrlich daran klammerte.
Marie saß noch immer am Tisch, als Peter die Wohnung schon lange verlassen hatte und sie mehr den erkalteten Kaffee wärmte als umgekehrt. Das musste es sein. Es ging hier um persönliche Dinge. Nur so ließ sich die brutale Arglist einer solchen Tat erklären. Kurz überlegte sie, diese Erkenntnis der Polizei mitzuteilen. Doch sie hatte nur die Durchwahl von Buhle und keine Lust, diesen Eisklotz anzurufen. Erst mal musste sie ihren Alltag ordnen.
Die Kinder waren zum Glück versorgt. Das Semester an der Uni hatte gerade begonnen, da konnte sie nicht einfach so fernbleiben. Sie musste mit Sabine sprechen. Das kurze Telefonat vorgestern war nicht ausreichend gewesen, um mit ihrer Chefin zu klären, was zu regeln war. Dann galt es, zu prüfen, ob Termine mit Klienten für diese Woche anstanden, die sie verschieben oder delegieren musste.
Entschlossen stand sie auf, suchte sich einen Zettel, auf den sie »Du bist ein wahrer Schatz. Danke, Marie« schrieb und den sie zwischen Teller und Marmeladengläser auf den Tisch legte. Dann ging sie ins Schlafzimmer zurück und zog sich an.
Peters Golf rollte gerade auf einen der letzten freien Parkplätze in der Nähe des Psychologie-Gebäudes auf dem Uni-Campus. In einiger Entfernung sah Marie einen Kollegen den geschwungenen Weg durch die Grünflächen entlangschreiten. Sie musste an dessen Buch »Kritische Lebensereignisse und Lebenskrisen« denken. Vielleicht hätte sie es doch lesen sollen. Blöder Gedanke. Sie musste jetzt überlegen, wie sie die gerade begonnene Lehrveranstaltung »Prävention in der Kinder- und Jugendpsychologie« am besten verlegen konnte.
Das Klingeln ihres Handys ließ sie zusammenfahren. Unruhe stieg in ihr auf. Die Nummer kannten nur Menschen, die ihr nahestanden. Sie fingerte das kleine vibrierende Ding aus der Jackentasche und blickte aufs Display: die Institutsnummer. Die paar Minuten hätte Sabine ja noch warten können.
»Ja, Sabine? Ich bin schon auf dem Parkplatz …. Nein, wir müssen besprechen, wie es jetzt laufen kann …. Ich weiß, aber es ist wirklich eine ganz, ganz schwierige Situation …. Ja, ich komme direkt zu dir …. Nein, nur ein paar Minuten. Bis gleich.« Ihre Chefin war so leicht nicht aus der Ruhe zu bringen, aber wenn sie eine Sache nicht kontrollieren konnte, wurde sie doch ungeduldig.
Das Handy klingelte schon wieder. »Ich bin doch unterwegs …« Aber diesmal war es nicht ihre Chefin. »Juliette, was ist passiert?«
Maries Körper verkrampfte sich, als sie ihre Schwiegermutter hemmungslos weinend etwas von Mattis und dessen Schule stammeln hörte. Mit quietschenden Reifen ließ sie den Golf rückwärts aus der Parklücke schießen und fuhr beschleunigend vom Parkplatz auf die Kohlenstraße Richtung Innenstadt. Den morgendlichen Rückstau in der Avelsbacher Straße versuchte sie durch Kürenz zu umfahren. Viel schneller ging es allerdings auch dort nicht.
Nach unendlichen zehn Minuten parkte sie den Wagen einfach quer hinter den besetzten Parkbuchten vor dem grauen Kasten, der die zweistöckige Turnhalle des Gymnasiums beherbergte. Mit für ihre Größe riesigen Sätzen eilte sie durch den Eingang in Richtung Lehrerzimmer. Als sie die Tür dort aufriss, starrte ihr ein Dutzend Lehrer erschrocken entgegen. Mattis’ Sportlehrer reagierte am schnellsten. Er nahm sie wortlos am Arm und führte sie in das Zimmer des Schulleiters. Dort saß ihr Sohn mit rot verweinten Augen auf einem der
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