Tod im Staub
und keine andere Kleidung bekommen. Ich kenne kein anderes Mittel, mit dem man einen Menschen so demoralisieren kann. Aber trotzdem hatte ich Glück; ich wurde nicht gefoltert.
Nein, sie folterten mich nicht. Das konnte ich unter den gegebenen Umständen sehr gut selbst tun, indem ich mich immer wieder fragte, wieso ich diesen Verrat so selbstverständlich und ohne Hemmungen hatte begehen können.
Eines Tages erschien ein Wachtposten bei mir. Er warf mir ein paar Hosen zu und trieb mich aus der Zelle heraus, so daß ich mich, so gut es ging, im Gehen anziehen mußte. Statt zum Verhörraum wurde ich nach draußen geführt und einem anderen Wachtposten übergeben, der für mich eine Augenquittung gab - das heißt, er gab einen Abdruck seines Netzhautmusters, wie es oft in den Städten der Brauch ist; früher hätte er wohl mit seinem Namen unterschrieben, vermute ich.
Er stieß mich auf den Vordersitz eines kleinen Kabinenrollers, der sich sofort in Bewegung setzte. Ich erinnere mich, daß ich aufblickte und über mir statt des Himmels eine riesige schwarzbraune Fläche sah, die vor Feuchtigkeit glänzte. Zuerst hielt ich sie irrtümlich für eine tiefhängende Schlechtwetterwolke. Mir war so elend, daß mein Verstand nicht richtig funktionierte; es dauerte eine Weile, bis ich begriff, daß dies eine Ansicht der Stadt war, die achtbare Bürger nie zu Gesicht bekamen: Es war der mächtige metallene Unterbauch der Stadt. In meinem erbärmlichen Zustand wirkte dieses Bild geradezu niederschmetternd auf mich; es schien mich zu erdrücken.
Ich wurde zum Farmer gebracht.
Damals glaubte ich, daß das wohl das Schrecklichste sei, was mir überhaupt passieren konnte. Der Farmer war eine Legende; er war der Schöpfer allen Unglücks; er war das personifizierte Böse. Und jetzt stand ich vor ihm in seinem kleinen, kahlen Büro und zitterte.
»Setz dich auf den Stuhl da und hör zu zittern auf«, sagte er.
Was hatte ich für einen Anblick erwartet? Daß er Reißzähne hätte und einen monströsen Körper? Er war klein und gepflegt und wirkte sehr konzentriert. Sein Haar war schon weiß, sein kleiner Bart und die Augenbrauen aber noch immer schwarz. Seine Nase war schmalrückig und gekrümmt, der Mund energisch. Vor meinem geistigen Auge wurden seine Gesichtszüge sofort zu Merkmalen des Todes.
Er betrachtete mich forschend und drückte dann auf einen Summer. Eine Frau erschien; er bat sie, eine Decke zu holen. Bis zu ihrer Rückkehr saß er schweigend da und beobachtete mich, ohne ein Wort zu sagen. Ich senkte den Blick, weil ich seine Augen nicht ertrug. Die Frau kam zurück, er stand auf und warf mir die Decke herüber.
»Leg das um die Schultern«, sagte er.
Nachdem ich seiner Aufforderung nachgekommen war, begann er zu sprechen.
Zuerst fragte er mich über die Wanderer aus, wie man es schon in den Verhören gemacht hatte. Dann fragte er mich über das Leben im Dorf. Langsam wurde meine Rede freier. Er erfuhr sogar, daß ich lesen konnte und in der Ruinenstadt Bücher gefunden hatte.
»Du bist also ab und zu in der alten Stadt gewesen, zu einem Stelldichein mit - Büchern«, sagte er.
»Ich bin nicht oft hingefahren, Sir. Deshalb habe ich vorher auch nie einen Wanderer gesehen, wenn sie dort übernachteten.«
»Aber du warst so oft dort, wie du konntest, Noland.«
»Ja, Sir.«
»Du hast nicht zufällig ein Buch mit dem Titel ›1984‹ gefunden?«
»Nein, Sir.«
»In dem Buch kommt ein junger Mann vor, der von den Regierenden als Feind betrachtet wird. Auch er ist zu einem geheimen Treffpunkt gegangen. Dort traf er einen anderen Menschen - eine Frau, in die er sich verliebte. Aber du hast dich nur mit Büchern getroffen. Hast du dich nie einsam gefühlt?«
Ich verstand nicht, wovon er sprach. Ich konnte nicht antworten. Daraufhin wechselte er das Thema und sagte streng: »Du bist lediglich ein Narr, Noland, weiter steckt nichts hinter dir. Du hättest dich nicht mit den Wanderern einlassen dürfen. Außerdem habe ich hier ein ärztliches Gutachten, in dem es heißt, daß du unter einer Art von Halluzination leidest. Stimmt das?«
Da ich nicht wußte, ob er eine bejahende oder verneinende Antwort hören wollte, erwiderte ich, daß ich das vermutete.
»Ja oder nein, du Narr? Hast du Halluzinationen oder nicht?« fragte er unwirsch.
»Ja, Sir, vielen Dank.« Mein Gehirn war taub.
»Ich werde dich freilassen, Noland. Wenn ich das nicht tue, wirst du den Rest deines kurzen Lebens irgendwo unter der Stadt
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