Tod in Blau
ihn herzlich.
»Sie hab ick ja lang nich jesehn. Was darf's denn sein? Ick hab schönen
Wirsing und Weißkohl, janz frisch vom Feld. Süße Äpfel,
die kann ick nur empfehlen. Für die Dame des Hauses vielleicht, zum
Backen?«
Leo lächelte. Ilse
backte gerne Apfelkuchen, er würde ihr zwei Pfund mitnehmen. Die
Marktfrau packte die Äpfel in eine Papiertüte. »Den
Wirsing müssen Se sich wohl untern Arm klemmen. Ick
hoffe, der schöne Mantel wird nich dreckich.«
»Danke, es geht schon.«
Leo bezahlte und wandte sich zum Eingangsportal mit dem Spitzbogen. Er
brachte seiner Schwester gelegentlich persönliche Kleinigkeiten oder
Dinge für den Haushalt mit, um das empfindliche Gleichgewicht, in dem
sie lebten und das mühsam erkämpft war, zu wahren.
An diesem Abend begrüßte
sie ihn allerdings mit einer Bitte, die ihn seine Mitbringsel sehr schnell
vergessen ließ.
»Ich möchte, dass
du jemanden kennen lernst, Leo«, sagte Ilse Wechsler, als sie ihrem
Bruder das Abendessen hinstellte. Leo schaute sie überrascht an.
»Natürlich, wen
denn?«
»Er heißt Bruno
Schneider. Wir haben uns schon öfter getroffen, aber ich wollte ihn
dir erst vorstellen, wenn wir uns besser kennen.«
Leo wusste, dass sich seine
Schwester seit dem Sommer ein paarmal in einem Café oder zum
Spazierengehen verabredet hatte. »Lade ihn doch für nächsten
Sonntag zum Kaffee ein«, sagte er spontan und tauchte eine
Pellkartoffel in den Schnittlauchquark auf seinem Teller.
»Hast du einen Freund,
Tante Ilse?«, fragte Marie neugierig. »Ist das der, den wir
mal im Park getroffen haben?«
Ilse errötete ein wenig
und machte sich am Schrank zu schaffen. »Ja, Liebes, der ist es.«
»Der mit dem schicken
Auto?«, fragte Georg und grinste seinen Vater an.
»Kinder, es reicht, ihr
macht eure Tante ganz verlegen«, tadelte Leo die beiden, konnte sich
aber ein Lächeln nicht verkneifen.
Marie rutschte von ihrem
Stuhl, lief ins Kinderzimmer und kam mit einem Briefumschlag zurück,
den sie ihrem Vater stolz hinhielt. »Guck mal, ich hab Post
bekommen. Von der Inge, vom Bauernhof.«
Inge Matusseks Vater, ein
Schuster aus der Nachbarschaft, hatte vor einigen Monaten seine Frau getötet
und saß seitdem in Tegel ein. Die kleine Tochter der beiden war bei
Verwandten untergekommen, die einen Bauernhof nördlich von Berlin
besaßen. Ab und zu schickte sie Marie Wechsler selbstgemalte Bilder
und kleine Nachrichten, die ihre Tante für sie geschrieben hatte.
»Eine Kuh, ein Schaf, ein Hund«, riet Leo, als er die
Buntstiftzeichnung betrachtete.
»Nein«, lachte
Marie und deutete auf das schwarz-weiße gehörnte Tier links im
Bild. »Das ist eine Ziege. Sieht man doch.«
»Ich finde, es sieht
aus wie eine Kuh, aber wenn du meinst…«
Als sie fertig gegessen
hatten, schickte Leo die Kinder aus der Küche, zog Weste und Kragen
aus und half seiner Schwester beim Abräumen. Obwohl er dem Besuch von
Bruno Schneider so bereitwillig zugestimmt hatte, fühlte er sich
nicht ganz wohl in seiner Haut, denn er hatte den Gedanken, Ilse könne
einen Mann kennen lernen und heiraten wollen, lange verdrängt.
»Gut, ich halte mir den
Sonntag auf jeden Fall frei«, sagte er beiläufig. »Sollen
wir Kuchen aus der Konditorei holen?«
Ilse schüttelte den
Kopf. »Ich backe lieber selbst. Du hast doch die schönen Äpfel
mitgebracht, die sind genau richtig.«
Später, als Ilse zu Bett
gegangen war, stand Leo nachdenklich am Wohnzimmerfenster und sah auf die
stille, dunkle Straße hinunter.
Manchmal hatte er sich
vorgestellt, wie es wäre, wieder zu heiraten. Eine Frau, die auch mit
den Kindern auskam. Doch dazu musste er sich erst verlieben; nur um der
Kinder willen zu heiraten kam für ihn nicht in Frage. Dann
allerdings, und hier schloss sich der Kreis, wäre Ilse allein. Sie
war nach Dorotheas Tod zu Leo gezogen, um dessen mutterlose Kinder zu
bereuen, undenkbar, dass sie mit einer neuen Schwägerin die Wohnung
teilen würde.
Im Hinausgehen bemerkte Leo
ein Buch auf dem Tisch. Märchen von Hans Christian Andersen. Er
schlug es auf. Innen ein Stempel mit der Aufschrift Leihbücherei
Clara Bleibtreu. Er klappte es zu und strich flüchtig mit der Hand
über den Einband.
*
Zuerst hatte es Arnold Wegner
gestört, als der Junge vor dem Fenster auftauchte, die Hände in
den Taschen der zerschlissenen Hose, den Mund offen und ein
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