Tod in Blau
widerwillig, zur Tür schlenderte, rief Wegner ihm noch nach:
»Wie heißt du eigentlich?«
»Paul, Paul Görlich.«
Seither war er öfter
gekommen und hatte meist schweigend zugesehen, wie Wegner malte. Der Maler
hatte sich an seine Gesellschaft gewöhnt und blickte bisweilen beim
Arbeiten über die Schulter, als erwarte er, Paul in der Tür zu
sehen.
Wegner trat vor die Staffelei
und betrachtete die angedeuteten Linien, die er mit Bleistift
vorgezeichnet hatte. Dann schaute er zu der blau grundierten Skizze, die
auf dem Tisch jag, und schüttelte den Kopf. Er griff zum Radiergummi
und entfernte säuberlich den begonnenen Entwurf. Die Skizze kam
seiner Vorstellung schon sehr nahe, nun musste er den Ausdruck der
Gesichter, Qual und brutale Ekstase, auf die größere Leinwand
übertragen. Und würde sich alle Zeit der Welt dafür nehmen.
Denn bei diesem Bild würde
er ganz frei sein. Diesmal würde er nicht malen, was er auf den Straßen
und in den Salons sah, sondern eine Erinnerung, die seit kurzem wieder an
die Oberfläche drängte und ihm keine Ruhe ließ. Eine
Erinnerung voller Gewalt, intim und roh, die nicht das Gemetzel auf dem
Schlachtfeld zeigen würde und dennoch ungeheuren Sprengstoff barg.
3
Oktober 1922
Beim Sonntagskaffee herrschte
unbehagliches Schweigen, das Leo durchbrach, indem er sich nach Bruno
Schneiders Automobil erkundigte. Ein Leuchten ging über dessen
Gesicht.
»Ein toller Wagen, Herr
Wechsler, da kann ich einfach nicht bescheiden sein.« Er strahlte
übers ganze Gesicht, und Leo musste zugeben, dass Schneiders
unverhohlener Besitzerstolz nicht unsympathisch war. »Und ich kann
mir nichts Schöneres vorstellen, als mit Fräulein Ilse eine
Spritztour darin zu unternehmen.«
Du lieber Himmel, dachte Leo,
sollte Ilse diesmal das große Los gezogen haben? Der Mann hatte ein
frisches, offenes Gesicht und war gut gekleidet, der perfekte Kavalier bis
hin zur Nelke im Knopfloch.
»Und wie schnell fährt
er? Ich habe wenig Erfahrung mit Automobilen, da ich selbst keins besitze«,
sagte Leo und warf seiner Schwester einen ermutigenden Blick zu.
»Er macht so seine
siebzig Sachen«, erwiderte Bruno Schneider mit einem bescheidenen Lächeln.
»Verraten Sie mir, wie
man es in diesen Zeiten zu solchem Wohlstand bringt«, meinte Leo und
fügte hinzu: »Nehmen Sie noch von dem Apfelkuchen, den bäckt
niemand besser als meine Schwester.«
Ilse sah ihn beschwörend
an, als wollte sie sagen, übertreib es nicht, doch ihr Gast lehnte
sich behaglich zurück. »Geschäftsgeheimnis, Herr Wechsler.
Nein, im Ernst, ich bin Kaufmann und nutze meine Verbindungen. Geschäftsauflösungen,
Nachlässe, dabei konzentriere ich mich auf Schmuck, Bilder, Antiquitäten.
Hauptsache, es ist nicht aus Papier und mit Zahlen bedruckt.«
»Das ist klug«,
meinte Leo. »Uns Beamten bleiben solche Möglichkeiten leider
versagt.«
Bruno Schneider nahm sich
noch ein Stück Kuchen. »Kompliment, Fräulein Ilse, eine
echte Delikatesse.« Dann wandte er sich wieder an Leo. »Dafür
dürfte Ihre Arbeit aber sehr viel spannender sein als meine.
Verbrecherjagd und so weiter. Haben Sie nicht vor kurzem einen Doppelmörder
gefasst? Irgendetwas mit einem Wunderheiler und einem Straßenmädchen?«
»Ja, das ist richtig,
es war einer der Fälle, die Schlagzeilen machen, vor allem, weil es
ein illustres Mordopfer gab, aber das sind eher Ausnahmen. Ich fürchte,
viele Leute haben eine falsche Vorstellung von unserer Arbeit. Meist
sitzen wir im Büro über Akten oder klingeln an Haustüren,
um Menschen zu befragen, die uns belügen oder sich mit Märchen
wichtigtun«, meinte Leo lächelnd.
»Ach, Herr Wechsler,
das kann ich nicht glauben.«
»Doch, doch, geniale
Verbrecher wie dieser Dr. Mabuse sind nur Phantasiegestalten. Die meisten
Kriminellen sind ganz gewöhnliche Menschen, vulgär, von
Leidenschaften getrieben oder einfach nur verzweifelt.« Und genau
das war es, was ihn an seinem Beruf faszinierte: die vielen
unterschiedlichen Menschen, die Charaktere, denen er im Laufe der Jahre
begegnet war. Die Gesichter, hinter denen so viele verborgene Gefühle
lagen und die oft nur Masken waren für Schmerz, Hass oder dunkle
Triebe.
Schneider beugte sich eifrig
vor. »Ich habe ein interessantes Buch gelesen, in dem ein Arzt
beschreibt, wie man das Verbrechen in der Welt ausmerzen
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