Tod in Blau
wenig
verwundert. Im Mai war er zum ersten Mal vor dem Atelier erschienen und
hatte unverwandt hineingestarrt. Er unternahm keinen Versuch,
hereinzukommen oder Arnold anzusprechen, sondern betrachtete durch die
Scheibe das geordnete Chaos, das im Atelier herrschte, Staffelei,
Einmachgläser mit Pinseln, ein Sammelsurium verschiedener Spachtel,
buntfleckige Tücher und Kittel, die an einer einfachen Holzleiste
hingen. Den rohen Holztisch mit den beiden Stühlen; die Chaiselongue,
die mit einem bunten orientalischen Tuch bedeckt war; den hohen
dreiteiligen Spiegel.
Nach einer Woche trat der
Junge zum ersten Mal in die Tür. Die Maitage waren schon warm, und es
wehte ein angenehmer Duft von grünem Gras und jungem Laub herein.
Wegner hatte gerade seinen Pinsel in ein kräftiges Ultramarinblau
getaucht, als ihn eine leise, ein wenig raue Stimme von hinten ansprach.
»Was malst du da?«
Arnold Wegner drehte sich um,
die Palette in der Hand.
»Einen See.«
»Und wo ist der?«
Wegner zeigte auf seine
Stirn. »Hier drin.«
Der Junge sah ihn verwirrt
an. »Du musst doch sehen, was du malst.«
»Nicht unbedingt. Ich
kann auch aus der Erinnerung malen, zum Beispiel einen See, den ich
irgendwann einmal gesehen habe. Schau her.« Er deutete auf eine
Leinwand, die in der äußersten Ecke des Raums hing und ein
graues Haus in einem großen Garten mit blühenden Bäumen
zeigte. »Das Haus meiner Eltern. Es wurde abgerissen, aber ich habe
immer noch im Kopf, wie es vor dreißig Jahren ausgesehen hat. Und so
habe ich es auch gemalt.«
Der Junge trat interessiert näher.
»Aber das sieht alles so schief und durcheinander aus.« Er
blickte Wegner besorgt an, als hätte er etwas Falsches gesagt, doch
der Maler lächelte nur.
»Es ist auch kein
genaues Abbild des Hauses. Ich malte es so, wie ich das Haus empfunden
habe, als ich ein Kind war.« Er legte die Palette weg und wischte
sich die Hände an einem Lappen ab. »Na komm, ich erklär's
dir.«
Er zeigte auf die Fenster.
»Die Fenster auf meinem Bild sind sehr klein, kleiner als in
Wirklichkeit. Weil ich immer das Gefühl hatte, nicht genug von der
Welt draußen zu sehen. Das Haus ist grau, wirkt aber düsterer,
als es tatsächlich war. Nur ich selbst habe es als düster und
beengend empfunden und deshalb so gemalt. Der Garten hingegen ist bunt und
schön, weil ich mich gern an ihn erinnere. Oft habe ich mich in einem
Baum verkrochen, hoch oben in einer Astgabel, und mir vorgestellt, in
einem fernen Land zu sein. Während meine Mutter mich vergeblich zum
Abendessen rief und immer wütender wurde.«
»Meine Mutter ist
manchmal auch wütend«, sagte der Junge unvermittelt und schaute
ihn aus großen Augen an.
Wegner las in ihnen eine
Kindlichkeit, die nicht zu dem Körper des etwa zwölfjährigen
Jungen passte.
»Manche Leute auf
deinen Bildern sehen ganz hässlich aus«, meinte der Junge und
schaute Wegner von der Seite fast ein wenig herausfordernd an.
»Viele Leute sind hässlich.«
»Aber nicht so hässlich.«
Er zeigte auf ein halbfertiges Portrát, das einen ungeheuer fetten
Mann mit Zwicker darstellte.
Seine Hängebacken waren
blaurot, die Nase knollig, die Ohren ausladend wie die Henkel einer
Suppenterrine. Er trug einen Straßenanzug, dazu aber eine Reihe
Orden auf der Brust. Die Haut an Stirn und bartlosem Kinn glänzte
speckig.
»Oh doch«, meinte
Wegner, »von innen schon. Menschen können innen oder außen
hässlich sein. Manche auch beides. Das Gute an denen ist, dass man
sie sofort erkennen kann.«
»Ist der Mann nicht böse,
wenn du ihn so malst?«, fragte der Junge.
»Er weiß nicht,
dass ich ihn gemalt habe. Manchmal male ich Leute, die ich in der Straßenbahn
gesehen habe. Oder auf dem Rummelplatz. Wenn mir jemand auffällt,
merke ich mir das Gesicht, die Gestalt, auffällige Dinge wie fehlende
Körperteile, ein Hinken, schlechte Zähne.«
»Ich dachte, Bilder müssen
schön sein.«
»Das denken viele
Leute. Aber ich kann nur so malen und nicht anders.«
Der Junge sah zu Boden.
»Was ist denn los?«
»Ich … wie bin
ich denn? Innen hässlich oder außen?«
Einen Moment lang wusste
Wegner keine Antwort, fühlte sich seltsam angerührt von der
Frage. »Ich glaube, du bist gar nicht hässlich. Jetzt muss ich
aber weitermachen.«
»Darf ich mal
wiederkommen?«
»Natürlich.«
Als der Junge langsam,
beinahe
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