Tod in Blau
spät, muss am trüben Wetter liegen. Ich wollte gerade
nach Hause gehen.«
Jetzt gab es kein Zurück
mehr. »Ich wollte fragen, ob Sie heute Abend schon etwas vorhaben.«
Sie schien erst verwundert,
dann nachdenklich, schließlich lächelte sie. »Nichts
Besonderes außer die Füße hochlegen und etwas Warmes
trinken.«
»Könnten Sie sich
mit dem Gedanken anfreunden, den Abend mit mir zu verbringen?« Wie
gestelzt, dachte er bei sich. Um sich nicht rettungslos zu blamieren,
holte Leo den Umschlag aus der Manteltasche und reichte ihn ihr.
»Was ist das?«
»Schauen Sie rein.«
Als sie die Zeichnung sah,
leuchtete ihr Gesicht auf. »Die ist aber hübsch.«
»Einen Rahmen konnte
ich auf die Schnelle nicht finden. Er wird nachgeliefert.«
»Sie meinen, es ist für
mich?«
»Ja.«
Leo spürte, dass sie
ihre Entscheidung getroffen hatte, und dankte im Geiste dem Trödler.
Sie schob sich die Haare aus
der Stirn, holte einen Schlüsselbund aus der Manteltasche, schaltete
das Licht im Laden aus und schloss die Tür von außen ab.
»Ich muss aber zuerst nach Hause und mich umziehen. Wohin wollen wir
denn gehen?«
Diese Frage hatte er befürchtet.
»In ein nettes Restaurant? Oder lieber in eine Bar? Ins Filmtheater?«
Sie legte ihm die Hand auf
den Arm. »Ich hätte eine Idee, aber ich weiß nicht, ob
Ihnen so etwas gefällt. Was halten Sie vom Romanischen Café?«
*
Die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche
gegenüber ragte wie ein dunkler Finger in den Himmel. Clara und Leo
standen unter der Markise, die an schönen Tagen die weiträumige
Terrasse des Romanischen Cafés überspannte. Die Drehtür
schien gar nicht stillzustehen, die Gäste kamen und gingen wie ein
steter Fluss. Clara sah ihn kurz an, dann traten sie durch die Tür
ins Innere. Der erste Eindruck war eher enttäuschend. Das Café
mit seinen ungeheuer hohen Decken, von denen eicheiförmige Glaslampen
hingen, wirkte wenig gemütlich und verströmte eher
Bahnhofsatmosphäre. Wäre er allein gewesen, hätte er
vermutlich auf dem Absatz kehrtgemacht, doch Clara schaute sich schon nach
einem Tisch um. Und als Leo einen Moment innehielt, spürte er plötzlich
die Energie und Lebendigkeit, die von den vielen Menschen an den Tischen
ausging. Sie redeten durcheinander, in Gruppen, zu dritt oder paarweise,
es gab lautstarke Diskussionen ebenso wie leise Zwiegespräche mit vorgebeugten
Köpfen. Also doch eine Künstlerkneipe, dachte er belustigt.
Sie fanden einen freien
Zweiertisch an der Wand, von dem aus sie den ganzen Raum überblicken
konnten. Als sie sich gesetzt und etwas zu trinken bestellt hatten, fühlte
Leo sich plötzlich ganz unbeschwert, als erlaubte er sich ein
kleines, nicht geplantes Abenteuer.
Am Nebentisch saßen
zwei Männer und eine Frau, die sich angeregt unterhielten, und als
Leo bemerkte, dass Clara zuhörte, entschloss er sich, ebenfalls dem
Gespräch zu lauschen.
»Er hat gesagt, ich müsse
noch ein wenig an den Dialogen feilen, aber der Rest sei ausgezeichnet«,
verkündete der eine Mann, der Mittelscheitel und Nickelbrille trug
und überaus ernsthaft wirkte. »In den Dialogen liege der Schlüssel,
meinte er, auf einen dialogischen Roman habe er gewartet. Er habe genug
von inneren Monologen und Gedankenströmen«, fügte er
hinzu.
»Dein perfekter
Konjunktiv in allen Ehren, Otto, aber ich halte nichts von konventionellen
Formen, sie sind bürgerlich und überholt. Im Dadaismus mischen
sich Formen, bilden ein neues Ganzes. Erinnert ihr euch an den Wettkampf
zwischen einer Nähmaschine und einer Schreibmaschine? Valeska Gert
tanzte dazu und hielt zwei Pfund Spargel im Arm. Und die Karikaturen von
Grosz, das ist subversiv, das bricht mit dem Althergebrachten …«
»Ach, dein Dadaismus
hat seinen Höhepunkt längst überschritten, Dada ist tot«,
entgegnete der Otto genannte Mann herablassend und nahm einen Schluck
Kaffee. »Sinnlose Wortfetzen, unverständliche Bilder,
grauenhafter Lärm, das interessiert heute nicht mehr. Die Menschen
wollen Ordnung, ein festes Gefüge, das ihnen Halt bietet.«
»Und das willst du
ihnen mit deinem Roman geben?«, fragte der andere spöttisch.
»Einem Roman, der in einer untergegangenen Gesellschaft spielt?
Baltischer Adel, ich bitte dich!«
Nun mischte sich die junge
Frau ins Gespräch, die ihr Haar rot gefärbt und die Lippen auffällig
violett geschminkt hatte.
»Ihr
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