Tod in Blau
Mäuse auf. Von
dem Jungen war keine Spur zu entdecken.
Dann prallte Walther um ein
Haar mit einer alten Frau zusammen, die, in ein riesiges Umschlagtuch gehüllt,
mit einem Korb in der Hand über den Hof schlurfte. Sie blickte ihn
aus trüben Augen an. »Wat ham Se denn verloren, junger Mann?«
»Wir suchen Paul Görlich,
kennen Sie den?«
Sie nickte und öffnete
den Mund, wobei sie zahnlose Kiefer enthüllte. »Klar kenn ick
den. Nich ville im Kopp, aba nett.«
»Haben Sie ihn heute
schon gesehen?«
»Nee, det nich, aba
gucken Se mal im Karnickelstall nach. Da jeht er öfter hin.«
Sie deutete mit einer blaugeäderten Hand in den nächsten Hof.
*
Paul lief ziellos durch die
Stadt. Wusste nicht, wo er die Nacht verbringen sollte. Die Angst trieb
ihn immer weiter. Weil es so kalt war, lagen die meisten Straßen
verlassen da. Und wer sich nach draußen wagte, hatte es
eilig und keinen Blick für einen Jungen in einem viel zu großen
Regenmantel, der ab zu und stehen blieb und sich suchend umsah. Er zog den
Mantel enger um sich.
Vielleicht konnte er in einem
Keller unterkriechen, da war es nicht ganz so kalt. Er merkte kaum, dass
er immer weiter nach Süden lief, seinen heimatlichen Kiez verließ
und in eine Gegend gelangte, in der er nie zuvor gewesen war. Von einem Bäckerkarren
schnappte er sich eine Schrippe. Er stahl sonst nie, doch der Hunger war
zu groß. Zum Glück merkte der Besitzer nichts, denn Paul hätte
nicht mehr weglaufen können, so müde war er. Seine Beine waren
nicht nur schwer vor Erschöpfung, sondern auch steif vor Kälte.
Dann wurde die Gegend
belebter. Hell erleuchtete Geschäfte, Automobile, klingelnde Straßenbahnen,
Werbetafeln mit schönen Waschmitteldamen und Filmschauspielerinnen.
Der Junge schaute sich unsicher um. Alles war laut und grell, hier fühlte
er sich gar nicht wohl. Schnell bog er nach links ab in eine Straße,
die viel dunkler aussah und von niedrigen Häusern gesäumt wurde.
Einerseits machte ihm die Dunkelheit Angst, andererseits bildete er sich
ein, dass es dem Mann hier schwerer fallen würde, ihn zu finden. Das
Kopfsteinpflaster schimmerte vor Nässe, es begann zu frieren, der
Boden wurde rutschig. Paul stolperte mehrmals, musste sich an kalten Hauswänden
abstützen. Aus den Augenwinkeln sah er Frauen in kurzen, grellbunten
Kleidern, die in Hauseingängen standen und ihm lachend nachschauten.
Aus Kellerkneipen drangen Gelächter und Musik.
Hätte er den Ruf der
Linienstraße gekannt, wäre er womöglich lieber im Reich
der glitzernden Lichter geblieben.
*
»Hier drüben, Leo!«,
rief Walther und winkte mit der Lampe. Sie eilten hin. Der Kaninchenstall
war wie ein kleines Häuschen gebaut, drinnen lag ein Haufen altes
Stroh. Leo zog an der Tür, die knarrend
aufschwang, und tastete im Stroh. »Hier ist was. Taschentuch«,
sagte er und nahm ein blaues, ordentlich gebügeltes Exemplar
entgegen, das Berns ihm reichte. Damit zog er eine zerschrammte Kaffeedose
hervor. »Halt mal den Mantel auf«, sagte er zu Walther und schüttete
den Inhalt aus. Eine Holzspule mit rotem Garn, Sammelbildchen, eine
angerauchte Zigarre, eine ausländische Münze, zwei Bonbons. Ein
Geldschein. Und ein Stück grüne Ölkreide. Die armseligen
Sachen wirkten anrührend, wie sie auf dem weichen Stoff von Walthers
Wintermantel lagen.
Er tastete weiter. Ein
Knistern. Vorsichtig griff er mit dem Taschentuch nach dem Blatt Papier
und zog es unter dem Stroh hervor. »Holen Sie bitte einen Umschlag
aus dem Wagen«, wies er Stahnke an. Als dieser mit dem braunen
Sackumschlag zurückkam, schob Leo das Blatt hinein und kehrte mit
seinen Männern auf die Straße zurück.
»Und?«, fragte
Walther gespannt.
»Im Büro«,
meinte Leo knapp, der den Fund bei vernünftiger Beleuchtung
untersuchen wollte. »Die Dose nehmen wir auch mit. Sie bleiben hier«,
sagte er zu den Männern, die das Haus bewachten. »Ich schicke
gleich ein paar Schupos als Ablösung.« Sie nickten und bezogen
wieder ihre Posten vor Haustür und Hintereingang.
Im Präsidium eilten die
vier Beamten in Leos Büro. Fräulein Meinelt hatte inzwischen
Feierabend gemacht; die Schreibmaschine war sorgfältig abgedeckt, der
Stuhl an den Tisch geschoben. Leo sah auf die Uhr. Dann mussten Stahnke
oder Berns eben den Bericht stenographieren und morgen tippen lassen.
Sie schalteten sämtliche
Lampen ein und
Weitere Kostenlose Bücher