Tod in den Anden
gehen?«
Lituma nickte. Doña Adriana wuchtete mit Mühe ihren kräftigen Leib hoch und entfernte sich langsam auf dem Berghang, in Richtung Lager, ohne sich von den Gendarmen zu verabschieden. Von hinten, mit ihren unförmigen derben Schuhen, mit den breiten Hüften, die so stark wackelten, daß ihr grüner Rock hin und her schwang, mit ihrem großen schaukelnden Strohhut, wirkte sie wie eine Vogelscheuche. Eine Teufelin, auch sie?
»Hast du schon mal einen huayco erlebt, Tomasito?«
»Nein, Herr Korporal, und ich habe auch nicht die geringste Lust darauf. Aber als kleiner Junge habe ich in der Umgebung von Sicuani einen gesehen, der ein paar Tage vorher runtergekommen war und eine große Bresche geschlagen hatte. Er war deutlich zu sehen, er kam den ganzen Berg runter, wie ein Schlitten. Er hat Häuser, Bäume und natürlich Leute unter sich begraben. Riesige Felsbrocken hat er mit sich gerissen. Tagelang war alles ganz weiß durch den staubigen Wind.«
»Glaubst du, daß Doña Adriana Komplizin der Terroristen sein könnte? Daß sie uns mit der Geschichte von den Teufeln in den Bergen schlicht und einfach verarscht?«
»Ich glaube alles, Herr Korporal. Mich hat das Leben zum leichtgläubigsten Menschen der Welt gemacht.«
Von Kindesbeinen an hatte man Pedrito Tinoco Mondkalb, Depp, Spinner, Dummkopf und, da er immer mit offenem Mund herumlief, Fliegenfresser genannt. Er ärgerte sich nicht über diese Spitznamen, weil er sich nie wegen etwas oder jemandem ärgerte. Und die Leute in Abancay ärgerten sich auch nie über ihn, denn am Ende nahmen sein friedliches Lächeln, seine Gefälligkeit und seine Offenherzigkeit alle für ihn ein. Es hieß, er stamme nicht aus Abancay, seine Mutter habe ihn wenige Tage nach seiner Geburt hergebracht, sie sei nur die Zeit in der Stadt geblieben, die nötig war, um dieses ungewünschte Kind in einem kleinen Bündel vor der Tür der Pfarrkirche Virgen del Rosario abzulegen. Klatsch oder Wahrheit, in Abancay wußte man nie etwas anderes über Pedrito Tinoco. Die Bewohner erinnerten sich daran, daß er von Kind an bei den Hunden und Hühnern des Pfarrers geschlafen hatte (böse Zungen behaupteten auch, dieser sei sein Vater), dem er die Kirche ausfegte und als Glöckner und Meßknabe diente, bis der Geistliche starb. Dann zog Pedrito Tinoco, mittlerweileein junger Bursche, in die Straßen von Abancay, wo er sich als Lastenträger, Schuhputzer, Straßenfeger, Helfer und Stellvertreter von Nachtwächtern, Briefträgern und Müllwerkern, Aufpasser von Marktständen und Platzanweiser im Kino und in den Zirkusunternehmen durchschlug, die zum Nationalfeiertag ihre Zelte aufbauten. Er schlief zusammengerollt in den Ställen, Sakristeien oder unter den Bänken der Plaza de Armas und aß dank der milden Gaben der Anwohner. Er ging barfuß, trug ausgebeulte, speckige Hosen, die mit einem Strick zusammengebunden waren, einen fadenscheinigen Poncho und setzte nie seine spitz zulaufende Ohrenmütze ab, aus der seitlich ein paar schlaffe Haarsträhnen herausragten, die nie eine Schere oder einen Kamm gesehen hatten.
Als sie Pedrito Tinoco rekrutierten, versuchten einige Einwohner den Soldaten klar zu machen, daß dies ungerecht sei. Wie konnte jemand den Militärdienst leisten, dem man auf den ersten Blick ansah, daß er ein Depp war, jemand, der nicht einmal gelernt hatte zu sprechen, der nur lächeln konnte mit diesem Gesicht eines großen Kindes, das weder versteht, was man ihm sagt, noch weiß, wer noch wo er ist? Aber die Soldaten gaben nicht nach und nahmen ihn mit, gemeinsam mit den jungen Burschen, die sie mit dem Lasso in den Trinkhallen, den Chicha-Schenken, den Kinos und im Sportstadion der Stadt eingefangen hatten. In der Kaserne wurde er kahlgeschoren, ausgezogen, erhielt zum ersten Mal in seinem Leben mit Wasserschläucheneine Art Vollbad und wurde in eine Khakiuniform und in Halbstiefel gesteckt, an die er sich nicht gewöhnen konnte, denn in den drei Wochen, die er dort war, sahen seine Kameraden ihn laufen, als würde er hinken oder hätte einen lahmen Fuß. Zu Beginn seiner vierten Woche als Rekrut lief er davon.
Er trieb sich in den ungastlichen Bergen von Apurímac und Lucanas, in Ayacucho, herum, wo er Wege und Dörfer mied, Gräser aß und sich nachts Höhlen von Viscachas suchte, um sich vor den eisigen Wirbelwinden zu schützen. Als die Hirten ihn aufgriffen, war er so abgemagert, daß er nur noch aus Haut, Knochen und einem vor Hunger und Angst wahnsinnigen Blick
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