Tod in Lissabon
seit Catarinas Geburt nicht mehr miteinander verkehrt haben. Also machen Sie sich selbst einen Reim darauf, Inspektor.«
»Was hat sie am Sonntag gemacht?«
»Sie muss eine Mega-Schlaftablette genommen haben, weil sie erst gegen Mittag aufgestanden ist. Ich hatte mir schon Sorgen um sie gemacht und am Morgen mehrmals nachgesehen, ob sie noch atmet. Um eins ist sie gegangen, zum Mittagessen, wie sie sagte. Danach habe ich sie nicht mehr gesehen.«
»Sie hatte doch einen Mercedes. Welche Farbe hatte der?«
»Schwarz.«
»Modell, Seriennummer?«
»Keine Ahnung.«
»Autonummer?«
»Auch wenn Sie mich für eine traurige alte Schachtel halten, Inspektor Coelho, habe ich doch Besseres zu tun, als mich an die Nummernschilder der Autos meiner Freundinnen zu erinnern. Außerdem hat Dumbo Gomes den Wagen beschlagnahmt. Fragen Sie ihn.«
Während der Zugfahrt zurück nach Lissabon fragte ich mich, ob es am Ende so weit gekommen war, dass die Mutter ihre eigene Tochter getötet hatte. Ich konnte es mir nicht vorstellen, es fühlte sich verkehrt an. Ich starrte aufs Meer, fasziniert von den Wellen, die sich auf einer Sandbank in der Flussmündung brachen, und dachte an die Oliveiras, ihre zerschlagenen Hoffnungen, die zerbrochene und jetzt tote Familie … und weswegen? Weil von Anfang an alles falsch gelaufen war.
Ich stieg nicht in Alcântara aus, weil ich schon vom Zug aus erkannte, dass der Tatort auf der Rückseite des Wharf-One-Klubs mittlerweile verlassen war. Als ich am Cais do Sodré ankam, war es Mittagszeit. Ich setzte an, die Schienen auf der Avenia 24 de Julho zu überqueren, um zu einem Restaurant in der Nähe des Marktes zu gehen. Eine der neuen Straßenbahnen näherte sich. Die Menschenmenge um mich herum schien sich zusammenzuziehen und dann aufzuplatzen. Jemand rempelte mich von hinten an, und ich fiel vom Bürgersteig. Mein Knöchel knickte um, mein Knie schlug auf den Asphalt, meine Finger glitten über die Metallschienen und spürten das Vibrieren der nahenden Bahn. Danach ging alles wie in Zeitlupe weiter. Ein knirschendes Geräusch, Gesichter, die über meine Netzhaut huschten, ein dunkles, spindeldürres Mädchen mit lockigen Haaren, das die Hand ausstreckte, nicht um mir zu helfen, sondern um auf mich zu zeigen. Ein kräftiger Mann mit dickem Bauch und den Unterarmen eines Ringers trat vor und wich wieder zurück. Die Frau neben ihm hatte dünne Augenbrauenstriche, die in ihrem Gesicht verschwanden, als sie die Stirn runzelte und den Mund öffnete, um ein seltsames, fernes Wehklagen auszustoßen. Der Film in meinem Kopf ruckelte aus der Spur, dunkle und helle Farben strömten auf mich ein. Meine Muskeln lösten sich aus ihrer Erstarrung, und ich rollte mich zur Seite. Metall quietschte, Hydraulik zischte, und meine Finger lösten sich aus der silbernen Spur, während die ganze Zeit ein Stahlrad kreischte.
Ich blickte durch sich kreuzende Kabel zum Himmel, und die Verworrenheiten meines Lebens schienen sich plötzlich in einfache Wahrheit aufzulösen. Gesichter scharten sich zu einer Kuppel über meinem Kopf zusammen, jemand hielt meine kalte Hand und rieb sie, bis sie warm war. Ich muss gelächelt haben wie ein Idiot, denn alle lächelten zurück. Heute war nicht mein Tag gewesen. Ich richtete mich auf. Fremde halfen mir auf die Beine. Irgendwer erklärte mir, dass ich Glück gehabt hätte. Ich sagte, das wüsste ich, und lachte, und alle stimmten mit ein, als ob auch sie nur knapp davongekommen wären. Ehe ich mich’s versah, hatten mich drei oder vier Leute in ein Restaurant geführt und sich mit mir an einen langen Tisch gesetzt, wo sie allen anderen Gästen erklärten, dass ich beinahe als Zitronenscheibe unter einer 7-Up-Straßenbahn geendet wäre.
Nach dem Essen entschied ich, noch immer benommen, dass die Metro sicherer war. In der Station Cais do Sodré hielt ich gebührenden Abstand von den Gleisen. Der Zug fuhr bis Anjos, und von da aus nahm ich eine Treppe zur Avenida Almirante Reis. Dort stellte ich fest, dass die Temperaturen auf fünfunddreißig Grad gestiegen waren. Dort spürte ich auch plötzlich eine seltsame Kälte in mir, spuckte mein Mittagessen wieder aus und begriff, dass mein Leben nicht mehr so sicher war wie vorher.
33
Dienstag, 16. Juni 199–,
Avenida Almirante Reis,
vor der Metro-Station Anjos, Lissabon
Ich stolperte in ein Café neben der Metro-Station. Falls es einen Namen hatte, ist er nicht haften geblieben. Wenn Leute darin gesessen haben, waren
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