Tod mit Meerblick: Schleswig-Holstein-Krimi
Blick auf den Husumer Hafen. An der Schiffsbrücke herrschte reger Verkehr, und inzwischen waren auch zahlreiche Urlauber unterwegs, um die graue Stadt, wie Theodor Storm sie einst genannt hatte, zu erkunden. Zwischen Schiffsbrücke und der Hafenstraße reihten sich Restaurants und kleine Souvenirläden aneinander. Einige Lokale hatten Tische ins Freie gestellt. An einem mit Blick auf den Binnenhafen nahmen sie Platz.
Das Kulturzentrum Speicher Husum lag gleich nebenan. Hier fanden unterschiedlichste Veranstaltungen im Jahr statt; vom Weihnachtsmarkt über Lesungen bis hin zum Punkkonzert wurde hier alles angeboten. Der Verein hatte sich gut mit der Stadt arrangiert, um der Bevölkerung ein buntes Programm in urigem Ambiente am Hafen bieten zu können.
Kreischend zogen einige Möwen über das Hafenbecken, das zurzeit kein Wasser führte. Ein ausgedienter Tonnenleger ruhte gegenüber auf der Slipanlage der ehemaligen Werft. Wiebke erinnerte sich daran, gelesen zu haben, dass die Hildegard im Jahr 1907 von den Husumer Werftarbeitern als Segelschiff gebaut worden war. Damals war sie auf den Namen Eider getauft und Anfang der 1920er-Jahre zum Motorschiff umgebaut worden. 1958 wurde die Eider an eine Tonnenlegefirma verkauft und markierte fortan unter dem Namen Hildegard das Fahrwasser von der Eider bis zur dänischen Grenze. Erst zwanzig Jahre später wurde das Schiff außer Dienst gestellt. Seitdem lag sie hier als eine der Attraktionen im Husumer Schifffahrtsmuseum, ein mächtiges Industriedenkmal nordfriesischer Schiffsbaukunst. Sie sah aus, als könne sie jederzeit wieder in See stechen. Die Werft gab es längst nicht mehr; an der Stelle, wo die Hildegard Anfang des letzten Jahrhunderts gebaut worden war, stand heute das neue Rathaus.
Nachdem sich Petersen bei der Bedienung eine große Portion Krabben mit Rührei und Bratkartoffeln und ein Mineralwasser bestellt hatte, entschied sich Wiebke für Pellkartoffeln mit Heringsstipp. Petersen hatte sich eine Zigarette angezündet und paffte scheinbar gedankenverloren den Rauch in den Himmel. Doch Wiebke sah ihm an, dass er über den Fall nachdachte.
»Was denkst du?«, wollte Wiebke wissen, doch Petersen antwortete nicht.
Als die Bedienung das Essen brachte, murmelte er ein überraschtes »Was – so schnell?« und drückte die Zigarette im Aschenbecher aus.
Wiebke stocherte in ihren Pellkartoffeln herum. »Wir haben einen unbekannten Mann, der ein Doppelleben führte und nirgendwo gemeldet, aber auch nirgendwo vermisst wird. Das ist doch nicht normal.« Der Umstand, dass sie auf der Stelle traten, gefiel ihr nicht. Dies war ihr erster Mordfall, und sie war ehrgeizig genug, um entscheidend zur Lösung des rätselhaften Mordes beitragen zu wollen. Immerhin war ihr Vater ein erfolgreicher Ermittler, und sie hatte vor, in seine Fußstapfen zu treten. Vielleicht war er dann stolz auf sie und entsann sich, dass er eine Tochter hatte. »Ich möchte mir seine Wohnung ansehen«, murmelte Wiebke kauend und spülte mit einem Schluck Cola nach.
»Das haben die Jungs von der Spurensicherung doch schon getan«, erwiderte Petersen und schob sich eine Gabel Rührei in den Mund. Er wirkte trotz der beruflichen Anspannung äußerst zufrieden; ein Umstand, den Wiebke darauf schob, dass er einen vollen Teller vor sich hatte. Die Bratkartoffeln dufteten wunderbar, und Petersen wurde zum Gourmet.
Wiebke schüttelte den Kopf. »Ich will dort hin und mich umsehen, um ein Gefühl für den Mann und sein Leben zu bekommen. Was hat ihn bewogen, diese Wohnung anzumieten, die er anscheinend nur selten wirklich bewohnte? Warum hat er sich nicht dafür entschieden, Nägel mit Köpfen zu machen? Warum hat er Bente Harmsen nicht aus dem Ehealltag gerettet und mit ihr ein neues Leben begonnen? Hatte er etwas zu verbergen? Hatte er Angst?«
»Wie willst du das herausfinden?« Petersen machte große Augen.
»Lass mich man machen«, lächelte Wiebke und genoss den Hering. »Vielleicht kann ich mich dann in seine Situation hineinversetzen und komme auf die richtigen Gedanken, die uns zur Lösung des Falles führen.«
»Wie du meinst.« Petersen nickte ergeben und widmete sich seinen Krabben. Er war sichtlich im Reinen mit der Welt, und Wiebke war sicher, dass er ihr in diesem Augenblick jeden Wunsch von den Lippen abgelesen hätte.
Sie leerte eilig ihren Teller. Nachdem sich Petersen die obligatorische Zigarette gegönnt hatte, zahlten sie die Rechnung und schlenderten zurück zur
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